Solidarität im GesundheitswesenUnd wo müssen wir künftig unsere persönlichsten Daten zeigen?
Die Pandemie zeigt, dass individuelle Gesundheitsinformationen eine immer wichtigere Rolle spielen. Eine Studie geht der Frage nach, wie sie künftig eingesetzt werden – und welche Risiken dies für die Gesellschaft birgt.
Nur wer Antikörper im Blut hat oder erwiesenermassen Corona-frei ist, darf in die Beiz: In der aktuellen Pandemie müssen wir erstmals unsere ganz persönlichen Gesundheitsinformationen offenlegen, um die Allgemeinheit zu schützen.
Für manche Menschen ist das ein Tabubruch, andere würden am liebsten noch viel weiter gehen. So wie etwa der Lausanner Ökonomieprofessor Marius Brülhart, der öffentlich forderte, dass Ungeimpfte Teile ihrer Spitalkosten selber zahlen sollen.
Die beiden Diskussionen haben einen gemeinsamen Nenner: Es geht um die Solidarität im Gesundheitswesen und um die Rolle, die unser individueller Gesundheitszustand dabei spielt. Eine neue Studie des Gottlieb-Duttweiler-Instituts im Auftrag der Stiftung des Krankenversicherers Sanitas kommt zum Schluss: Was wir jetzt erleben, ist wohl erst der Anfang. Weil wir immer mehr individuelle Gesundheitsdaten erheben, dürfte sich auch der Solidaritätsbegriff im Gesundheitswesen wandeln. Die Frage ist nur, in welche Richtung.
Vier Szenarien
Tatsache ist: Noch nie haben wir unser Wohlbefinden so detailliert vermessen wie heute. Mittels Apps können wir unseren Schlaf, unsere Ernährung und unsere Leistung beim Joggen akribisch tracken. Die neuste Apple-Watch misst sogar den Sauerstoffgehalt im Blut. Per Speichelprobe kann ganz einfach das Risiko für gewisse Erbkrankheiten ermittelt werden. Und bereits wird an intelligenten Toiletten geforscht, welche die Darmflora untersuchen.
Die Studienautoren Jakub Samochowiec und Andreas Müller halten fest: Das zunehmende Tracking bringt zwar Chancen in der Prävention mit sich. Gleichzeitig haben verschiedene Akteure – vom Staat bis zu Versicherungen – ein Interesse daran, diese Daten zu nutzen. «Bereits bieten erste Krankenkassen Rabatte auf Zusatzversicherungen an, wenn die Versicherten ihre Schritte tracken», nennt Studienautor Samochowiec ein Beispiel.
Wie sich die Situation künftig entwickelt, hängt von mehreren Faktoren ab. Die folgenden vier Extremszenarien sind für die Autoren denkbar:
Belohnen und Strafen
«Big Government» nennen die Autoren ein Szenario, in dem der Staat sämtliche Gesundheitsdaten zentral sammelt. Ziel ist es, präventiv zu handeln und die Gesundheit der Bevölkerung zu maximieren. Wer ungesund lebt, muss mit Sanktionen rechnen, vorbildliche Bürgerinnen werden belohnt. Dank Big Data können – wie bei einer Wetterprognose – Warnungen ausgegeben werden, wenn etwa die Grippe im Anmarsch ist und im ÖV eine Maske getragen werden soll. Die Gesundheitskosten werden von einer steuerfinanzierten Einheitskasse übernommen.
Der Markt richtets – oder nicht
Im Szenario «Big Business» wird Gesundheit als Privatsache angesehen. Ungesund zu sein, gilt als persönliches Versagen. Die Gesundheitsversorgung findet auf dem freien Markt statt. Um sich abzusichern, schliessen sich Menschen mit ähnlichem Risikoprofil zusammen – und gewähren sich dafür gegenseitig Einblick in ihre Gesundheitsdaten. Menschen mit schlechten Risiken werden ausgeschlossen, sie müssen im Krankheitsfall auf Hilfe von Wohltätigkeitsorganisationen hoffen oder ein Crowdfunding starten.
Eigenverantwortung dank Daten
Im «Big Self»-Szenario beschränkt sich der Staat darauf, die Nutzung von Daten zu regulieren und eine gesunde Lebensweise zu fördern. Krankenversicherungen sind obligatorisch, finanzielle Solidarität ist also gesetzlich vorgeschrieben. In Restaurants müssen die Nährwerte von Menüs transparent angegeben werden. Allgemein wird erwartet, dass sich die Menschen mit ihren Gesundheitsdaten auseinandersetzen und mündige Entscheidungen treffen. Jeder muss ein elektronisches Patientendossier haben – wobei streng reglementiert ist, wer Einsicht in die Daten bekommt. Mit dem Nachteil, dass der Forschung weniger Daten zur Verfügung stehen als in anderen Modellen.
Daten für die Gemeinschaft
Im Szenario «Big Community» schliesslich mischt sich der Staat kaum ein. Das Teilen von Gesundheitsdaten ist aber zur gesellschaftlichen Norm geworden. Aus den frei zugänglichen Daten können wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, etwa für die Entwicklung neuer Medikamente. Dank der Open-Source-Medizin stehen viele Medikamente patentfrei und sehr günstig zur Verfügung. Kranke und Betagte werden häufig von Angehörigen oder Nachbarn gepflegt, Freiwilligenarbeit wird grossgeschrieben.
«Warum soll ich für jemanden zahlen, der raucht und auf Impfungen pfeift?»
Mitautor Andreas Müller betont, die einzelnen Szenarien schlössen einander nicht komplett aus – «vermutlich wird die Zukunft aus einem Mix davon bestehen». Klar sei, dass die zunehmende Technologisierung neue Kontrollmöglichkeiten biete, welche in der Regel auch genutzt würden. «Dies kann zu einer schleichenden Entsolidarisierung führen. Warum soll ich für jemanden zahlen, der raucht, auf Impfungen pfeift und sich nachweislich ungesünder verhält als ich?»
Müller ist es aber wichtig, zu betonen, dass die Technologie den Weg nicht automatisch vorgibt. «Politik und Gesellschaft können Gegensteuer geben, indem sie beispielsweise griffige Datenschutzgesetze formulieren.» Entscheidend sei, von welchem Menschenbild eine Gesellschaft ausgehe – und wie viel Vertrauen jeder bereit sei, dem anderen entgegenzubringen. «Um dies positiv zu beeinflussen, braucht es gezielte Massnahmen, die die Menschen befähigen, gesund zu leben, und auf gesellschaftlicher Ebene Institutionen, die Vertrauen fördern.»
China als Vorbild?
Einen Konsens zu finden, sei dabei nicht unbedingt einfach. Samochowiec verweist auf eine Studie eines deutschen Versicherers, in der immerhin ein Fünftel der Befragten Sympathien für ein Social-Score-System à la chinoise bekundet. «Das ist ganz ein anderes Menschenbild als das von Personen, die sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen.»
Workshops, die die Autoren im Zuge ihrer Recherchen durchführten, zeigten, dass vielen Menschen in der Schweiz das «Big Self»-Szenario tendenziell am nächsten ist. In der Pandemie kamen jedoch auch häufiger Ansätze zum Zug, die in die Richtung «Big Government» gehen, Beispiele dafür sind Lockdowns oder die Zertifikatspflicht. «Dies mag während einer Pandemie notwendig sein», so Müller. Danach wäre es aus seiner Sicht aber wichtig, dass eine gesellschaftliche Debatte darüber geführt wird, welche Richtung wir einschlagen wollen.
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