Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

In Italien wurden Fehler gemacht
Und jetzt kommt die Justiz

Die Lombardei beklagt nun die Hälfte aller Todesfälle in Italien, mehr als 11’000, und der Verdacht ist gross, dass die Dunkelziffer viel höher ist.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Noch ist die Notlage nicht überstanden, selbst die akute Phase nicht. Noch sterben in der Lombardei täglich Hunderte Menschen an Covid-19, zuletzt waren es 231 in 24 Stunden. Doch bereits ist die Zeit der Schuldzuweisungen angebrochen, der Zweifel und dunklen Vermutungen. Hat die Lombardei, Italiens reichste und wirtschaftlich kreativste Region, in der Not falsch reagiert – gleich mehrfach? Kann es sein, dass nicht alles Schicksal war? Und warum ist die Sterblichkeitsrate ausgerechnet in der Lombardei so hoch?

Nirgendwo ist die Sterberate höher

Keine Region im Land wurde vom Virus härter getroffen als die Lombardei, so viel ist klar. Wahrscheinlich tauchte dort der erste italienische Fall auf, auch der erste bekannte Infektionsherd war da, in Codogno. Die Lombardei beklagt nun die Hälfte aller Todesfälle in Italien, mehr als 11’000, und der Verdacht ist gross, dass die Dunkelziffer viel höher ist. Addiert man zum Beispiel alle Todesfälle, die die Einwohnerämter der Gemeinden in der Provinz Bergamo seit Beginn des Jahres registriert haben, kommt man auf eine Zahl, die viermal so hoch ist wie in normalen Jahren. Wie viele dieser Menschen starben tatsächlich an Covid-19? Noch hält man sich an die offiziellen Statistiken.

«Corona kam wie ein Tsunami über die Region.»

Giulio Gallera, Verantwortlicher des lombardischen Gesundheitswesens

Im «Pirellone», dem mächtigen Hochhaus der lombardischen Regionalverwaltung in Mailand, haben nun die Ermittler der Guardia di Finanza vorbeigeschaut. Die Steuerpolizei suchte nach Dokumenten, die Licht in ein besonders heikles Dossier bringen sollen. Es trägt einen bekannten Namen: Pio Albergo Trivulzio – so heisst ein grosses Mailänder Altersheim mit mehreren Sitzen. Ins Gedächtnis der Italiener brannte es sich Anfang der Neunzigerjahre, als der Korruptionsskandal Tangentopoli die lokale und dann auch die nationale Politik erschütterte. Im Pio Albergo Trivulzio fand – in flagranti – eine Schmiergeldzahlung statt, die den Staatsanwälten des Pools «Saubere Hände» damals als erster Beleg für das dichte Geflecht von Gefälligkeiten diente. Das ist lange her.

Als nun die Epidemie «wie ein Tsunami» über die Region kam, wie es Giulio Gallera, der Verantwortliche des lombardischen Gesundheitswesens, neulich nannte, war in den Krankenhäusern bald kein Platz mehr für Angesteckte mit schweren Symptomen. Und das war keine Überraschung. In Italien obliegt die Kompetenz im Gesundheitswesen ganz den Regionen, es ist dies eine ihrer wichtigsten Domänen. In der Lombardei regierte in den vergangenen zwanzig Jahren durchwegs die Rechte. Zunächst gab die bürgerliche Rechte von Silvio Berlusconis Forza Italia den Ton an, neuerdings ist es die rechtspopulistische Lega. Die Rechte brüstet sich damit, dass sie die Region zu einem Modell von Effizienz entwickelt habe. Das Private wurde gefördert, das Öffentliche vernachlässigt. Wenn es in der Lombardei im entscheidenden Moment dramatisch an Intensivbetten mangelte, lag das vor allem an dieser Entkernung. Man gelangte schnell an Kapazitätsgrenzen.

Das Altersheim als Herd und Verteilzentrum

Die Regionalregierung beschloss deshalb am 8. März, Patienten mit leichten Symptomen in die Altersheime zu verlegen, um die Kliniken zu entlasten. Es war ein fataler Beschluss. Für die Heime gab es auch einen finanziellen Anreiz: Für jeden Covid-19-Patienten, den sie aufnahmen, erhielten sie 150 Euro am Tag. 15 machten mit – welche genau, weiss man nicht. Die Patienten sollten von den betagten Menschen aus der Hochrisikogruppe getrennt werden, doch Kontrollen gab es offenbar keine. Die Altersheime entwickelten sich so zu Infektionsherden.

Allein das Pio Albergo Trivulzio, das als Verteilzentrale für die ganze Region fungierte, meldete zwischen dem 1. März und dem 11. April 191 Todesfälle. Offiziell. Särge in grosser Zahl standen tagelang in der Kapelle des Heims. Obschon die Verbreitung des Virus schon lange bekannt war, arbeitete das Personal bis zum 23. März ohne Schutzanzüge und Masken. Die Angestellten drohten mit Streik, dann erst wurde Schutzmaterial verteilt. Angehörige klagten in Mails, sie wüssten seit Wochen nichts von ihren betagten Lieben. Die Guardia di Finanza durchsuchte jetzt auch die Büros des Pio Albergo Trivulzio – sechzehn Stunden lang.

Das Mysterium von Nembro und Alzano

Rätselhaft bleibt auch bis heute, warum die Gemeinden Nembro und Alzano Lombardo in der Val Seriana bei Bergamo, die man heute für das ursprüngliche Epizentrum der Krise hält, trotz stark ansteigender Zahlen nicht zur «zona rossa» erklärt und abgeschottet wurden. Die Zentralregierung in Rom und die Regionsverwaltung in Mailand beschuldigen sich gegenseitig für die Unterlassung. Attilio Fontana, der Gouverneur der Lombardei, behauptete lange, er hätte ja schliessen wollen, man habe ihn aber nicht gelassen. Wahr ist jedoch, dass ihm das Gesetz sehr wohl erlaubt hätte, Nembro und Alzano abzuriegeln.

Spätestens seit dem 23. Februar war allen klar, dass das Spital von Alzano ein Problem mit Corona hatte. Es wurde damals auch geschlossen, doch nur drei Stunden später wurde es wieder geöffnet, ohne desinfiziert worden zu sein und ohne Begründung. Wurde die Gefahr gezielt heruntergespielt, auf Druck der Wirtschaft?

Dass ausgerechnet die Lombardei so hinterfragt wird, erschüttert so manche alte Gewissheiten. Matteo Salvini findet, die Vorwürfe seien politisch motiviert: ein Angriff gegen seine Lega. Doch so einfach ist das nicht. Auch im Veneto regiert ein Vertreter der Lega, Luca Zaia, seit zehn Jahren Gouverneur. Auch in seiner Region gab es früh einen Infektionsherd. Doch das Veneto mit bisher weniger als tausend Todesfällen meistert die Krise besser, geradliniger und dazu auch noch stiller als die Lombardei.