Umstrittener Einsatz am 1. MaiEuropäischer Gerichtshof für Menschenrechte rüffelt Zürcher Polizei
Der Gerichtshof hat Beschwerden gegen den 1.-Mai-Einsatz von 2011 in Zürich gutgeheissen. Nun müsse die Polizei die Praxis des Einkesselns überdenken, fordert der Anwalt der Beschwerdeführer.
Der 1. Mai 2011 war ein denkwürdiger Tag. Stadt- und Kantonspolizei griffen damals am Tag der Arbeit rigoros durch, um in Zürich eine Nachdemonstration und befürchtete Krawalle zu verhindern.
Mehr als 300 Menschen wurden bei dem Polizeieinsatz im Gebiet Kanzleiareal/Helvetiaplatz eingekesselt, verhaftet und anschliessend weggewiesen.
Mehrere Verhaftete beschritten daraufhin den Rechtsweg. Mit dem Vorgehen der Polizei seien ihre Rechte auf Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit verletzt worden.
Im April 2016 wies das Bundesgericht die Beschwerden ab, worauf zwei der Verhafteten an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gelangten und wegen unzulässigen Freiheitsentzugs klagten. Die beiden waren nach der Festnahme bis zum Abend inhaftiert worden. Nach einer umfangreichen Identitätsprüfung wurden sie wieder freigelassen.
Unzulässiger Freiheitsentzug
Nun, mehr als sieben Jahre nach dem Entscheid des Bundesgerichts, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) diese Beschwerden gutgeheissen. Bei der Einkesselung und der anschliessenden Festnahme habe es sich um einen unzulässigen Freiheitsentzug gehandelt, heisst es in dem am Dienstag veröffentlichten Urteil. Das Recht auf Freiheit und Sicherheit sei verletzt worden.
Laut Einschätzung des Gerichts war die Einkesselung und Festhaltung in der Polizeiwache nicht gerechtfertigt. Für die Überprüfung der Identität sei es nicht zwingend notwendig gewesen, die Personen auf die Polizeiwache zu bringen. Diese Überprüfung hätte auch vor Ort stattfinden können.
Zudem könne die Verhaftung auch nicht mit der Notwendigkeit begründet werden, eine drohende Straftat zu verhindern. Zwar habe es an früheren 1.-Mai-Nachdemos Ausschreitungen gegeben. Das bedeute aber nicht unbedingt, dass auch die beiden Beschwerdeführer an möglichen neuen Krawallen teilgenommen und dort eine Straftat begangen hätten.
Weiter hält der Gerichtshof fest, es sei nicht ausgeschlossen, dass die Festnahme schikanös gewesen sei.
Damit wendet sich Strassburg ausdrücklich gegen die Argumentation des Bundesgerichts. Dieses war 2016 zum Schluss gekommen, dass die Einkesselung und die Überführung der Personen in die Polizeikaserne nicht rechtswidrig gewesen seien.
Bundesgericht: Einsatz im Interesse der Öffentlichkeit
Aufgrund der Erfahrungen der Vorjahre und der konkreten Situation habe man davon ausgehen müssen, dass es wieder zu einer Nachdemonstration mit Sachbeschädigungen und Verletzten kommen würde.
Entsprechend habe die Polizei im Interesse der Öffentlichkeit einschreiten dürfen, wozu auch eine ausreichende gesetzliche Grundlage bestehe, hielt das Bundesgericht fest. Das Vorgehen sei demnach rechtmässig gewesen.
Auch unter dem Blickwinkel der europäischen Menschenrechtskonvention sei das Festhalten der drei Beschwerdeführer nicht zu beanstanden, hielt das Bundesgericht damals fest. Das sieht Strassburg nun allerdings anders.
«Polizei muss über die Bücher»
Der Zürcher Rechtsanwalt Viktor Györffy, der die beiden Beschwerdeführer vertritt, zeigte sich am Dienstag erfreut über das EGMR-Urteil. Es bestätige, dass es damals keinen hinreichenden Grund für einen Freiheitsentzug gegeben habe.
Der Entscheid zeige zudem auf, dass die polizeiliche Strategie von Einkesseln und Festhalten nicht zu rechtfertigen sei. Nun müsse die Zürcher Polizei über die Bücher und ihre Praxis bei Demonstrationen überdenken.
Für Györffy hat das Urteil generelle Auswirkungen auf die Demonstrationsfreiheit in der Schweiz. Nun stünden die Behörden und die Polizei in der Pflicht, sich bei solchen Einsätzen an die Bundesverfassung und die europäische Menschenrechtskonvention zu halten. Auch unbewilligte Demonstrationen müssten geschützt sein vor unbegründeten Eingriffen durch den Staat.
Sicherheitsdepartement will Urteil analysieren
Die Zürcher Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart (Grüne) wollte sich am Dienstag noch nicht zum Entscheid und seinen Folgen für die Polizeiarbeit in Zürich äussern. «Wir werden das Urteil nun lesen und sorgfältig analysieren. Erst danach äussern wir uns dazu», sagt Katharina Schorer, Sprecherin von Stadträtin Rykart.
Die Kantonspolizei teilte auf Anfrage mit: «Wie bereits 2016 nach dem Bundesgerichtsentscheid festgehalten, hat sich auch die Polizeiarbeit seither verändert.» Weiter wollte sich die Kapo auf Nachfrage nicht äussern.
Genugtuung für Beschwerdeführer
Die beiden Beschwerdeführer, Lukas Arnold und Felix Marthaler, erhalten eine Genugtuung von je 1000 Euro, zudem werden ihnen die Anwaltskosten erstattet.
Sie zeigten sich am Dienstag vor den Medien erleichtert über das Urteil, ihr jahrelanger Kampf habe sich gelohnt. Zwischenzeitlich habe er den Glauben an den Rechtsstaat schon beinahe verloren, sagte Felix Marthaler.
Für Lukas Arnold steht das Urteil im Kontext der «anhaltenden polizeilichen Repression um den 1. Mai in Zürich». Er erinnerte an den Gummischroteinsatz am diesjährigen 1. Mai, bei dem eine Person auf einem Auge erblindet sei.
Arnold und Marthaler hoffen, dass der Staat und die Polizei aus dem Urteil ihre Lehren ziehen. Ihre Genugtuung wollen sie für den weiteren Kampf gegen «Polizeiwillkür und Repression» spenden, wie sie sagten.
Laut Anwalt Viktor Györffy sind bei verschiedenen Zürcher Instanzen noch rund ein Dutzend weitere Verfahren im Zusammenhang mit der Einkesselung vom 1. Mai 2011 sistiert, bis ein Urteil in diesem Fall gefällt wurde. Er geht davon aus, dass auch in diesen Fällen eine Genugtuung bezahlt werden muss.
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