Streitbare US-Autorin im Interview«Ich finde nicht alles verkehrt, was Trump macht»
Demokratin – und Migrationskritikerin: Lionel Shriver lehnt jede ideologische Blase ab. Mit einer ungleichen Gesellschaft hat sie kein Problem. Ein rasantes Gespräch über #MeToo, Macht und Milliardäre. Und die Schweiz.

Lionel Shriver (67) sitzt bei unserem Videointerview in ihrem Haus bei Lissabon, wohin sie vor kurzem nach 37 Jahren in Grossbritannien gezogen ist. England sei bevölkerungstechnisch und auch sonst am Rand des Kollapses, habe etwa den Woke-Wahn von den USA übernommen, eckte sie damals an. Im jüngsten Roman, «Mania» (2024), erfindet die Schöpferin von «Wir müssen über Kevin reden» (2003) selbst einen sozialen Wahn und beschreibt, wie leicht Ideologie zu Diktatur mutieren kann. Nun sprach die Brexit-Befürworterin mit uns über die «Hysterien» in der westlichen Gesellschaft wie «Klima-Absolutismus», über das Schreiben in Zeiten des Shitstorms und die Vor- und Nachteile von Donald Trumps Politik.
Frau Shriver, in Ihrem jüngsten Roman, «Mania», gilt in Trumps Amerika das Credo: Alle sind gleich intelligent; Selektion nach Können und Kompetenz ist daher schwer verboten. So stürzt die Wissenschaft ab, und unfähige Ärzte pfuschen ohne Ende. Eine Satire.
So ist es.
Tatsächlich haben die USA einen Masernausbruch und den ersten Todesfall seit 2015, es starb eine ungeimpfte 6-Jährige. Gesundheitsminister Kennedy, ein Impfkritiker, kommentierte, das sei ja nicht ungewöhnlich. Ist die Dystopie Realität geworden?
Weil ich meine dystopischen Bücher stets am Saum der Realität entlang schreibe, kommt es immer wieder dazu, dass Teile meiner Fiktionen später real werden. Aber den Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. will ich da dennoch verteidigen. Immerhin hat er sich schliesslich dazu durchgerungen, die Masernimpfung zu empfehlen. Das ist doch eine gute Nachricht.
Aber Kennedy hat bei dieser Empfehlung auch Vorbehalte ausgesprochen. Insgesamt droht der US-Gesundheitsbereich stark gekürzt zu werden, von der Krebsforschung bis zur staatlichen Krankenversicherung Medicaid. 83 Millionen Menschen in Amerikaner hängen von ihr ab.
Viel zu viele! Im Moment ist es so, dass sogar beinahe die Hälfte der Bevölkerung durch verschiedene Programme eine Fast-Gratisgesundheitsversorgung oder zumindest staatlichen Zustupf hat – was die andere Hälfte bezahlt, zusätzlich zur eigenen Gesundheitsversorgung: Das ist nicht fair. Zumal die Versorgung viel teurer ist als in anderen Ländern: Der wahre Profiteur in den USA ist der Mittler zwischen Arzt und Patient. Das System ist zu komplex, zu viele beissen in den Apfel. Eine nationale Krankenversicherung für alle wäre am besten, ohne bürokratischen Wasserkopf. Wie in Skandinavien. In Grossbritannien hingegen funktioniert der National Health Service nicht gut, weil es zu viel Management gibt.
Sie befürworten also Trumps Streichprogramm – obwohl es prioritär dazu dienen soll, Steuererleichterungen für die Superreichen zu ermöglichen?
Grundsätzlich habe ich eben kein Problem mit einer ungleichen Gesellschaft. Es sind nicht alle gleich – weder gleich intelligent noch gleich begabt noch gleich fleissig; noch gleich reich. Für mich ist es o. k., wenn die Leute unterschiedlich erfolgreich sind, abhängig davon, wie sehr sie sich anstrengen. Natürlich wünsche ich mir eine Gesellschaft, in der die Menschen nicht verhungern, nicht in der Gosse sterben, sondern mit allem Nötigen versorgt werden. Auch dass die Schere der Ungleichheit derart weit geöffnet ist und es Milliardäre gibt, ist ein unangenehmer Fakt. Aber wenn Milliardäre ein unvermeidliches Symptom einer freien Gesellschaft mit selbstverantwortlichen, strebsamen Menschen sind, dann ist das halt so. Ihre Existenz ist der Preis für unsere ökonomische Freiheit.
Wirklich?
Ich denke schon. Einen Fehler sehe ich allerdings im Steuersystem: Dass man in den USA auf Einkommen mehr Steuern zahlt als auf Kapitalerträge, scheint mir falsch. Aber, Vorsicht!, ich finde nicht alles verkehrt, was Donald Trump macht. An sich wären beispielsweise Sparpläne sehr wichtig, freilich nicht so, wie es jetzt abläuft. Ich mache mir grosse Sorgen über die wachsenden Staatsschulden. Auch stimme ich zu, dass die US-Grenze im Süden ausser Kontrolle war – gut, dass die Leute jetzt abgeschreckt werden. Und ich halte, wie gesagt, nichts von «DEI»: von Anstellung gemäss Minderheitenförderung, sprich, nach Identität statt Qualität. Trotzdem war ich nie Trump-Unterstützerin, immer Demokratin. 2024 habe ich, zu meiner Schande, gar nicht gewählt.

Warum nicht?
Ich war wie gelähmt: Trump ging gar nicht, auch wenn ich nicht hysterisch bin und nicht glaube, dass er in den USA eine Diktatur einführt. Ich bin bestürzt, dass er Präsident wurde, und das gleich zweimal! Aber ich konnte Kamala Harris nicht ausstehen. Sie ist dumm, eine wandelnde Bügelfalte, ihre öffentlichen Auftritte waren peinlich. Unwählbar. 2020 habe ich Joe Biden gewählt. Wie er im Juni 2024 vor einem Millionen-Fernsehpublikum zusammenbrach, war wild. Ich muss zugeben: Dieser hysterische letzte Sommer war durchaus unterhaltsam.
Und er war ein Abbild dessen, was Sie im Buch beschreiben: Zunehmende Hysterie, und die Menschen sind blind für alles ausserhalb ihrer Blase.
Genau. Über dieses Phänomen, das mich schon lang fasziniert, wollte ich schreiben. Es ist eine urmenschliche Tendenz, Glaubenssätze total zu verinnerlichen, egal, was gegen sie spricht. Regelmässig entwickeln sich Massenhysterien. In den 1990-ern war es etwa die Idee vom «Recovered Memory Syndrome». Den Leuten wurde eingeredet, sie hätten traumatische Missbrauchserinnerungen verdrängt – und wenn sie sich nicht erinnerten, war das ironischerweise erst recht ein Beweis fürs Trauma. So viele Familien wurden damals durch solche haltlosen Vorwürfe brutal zerstört! Später wurde die Theorie dann sang- und klanglos abgewickelt. Seit ungefähr 2010, seit der Verbreitung der sozialen Medien, entwickeln sich soziale Manien noch viel schneller und umfassender. Die Neigung zur Verrücktheit hat sich überall intensiviert.
Haben Sie Beispiele?
Die #MeToo-Bewegung startete mit guten Gründen, Frauen waren schreckliche Dinge angetan worden. Aber mit der Zeit wurde sie extrem und verletzte Leute, die es nicht verdient hatten. Für mich ist auch der Fokus auf Transgender so eine schädliche Obsession. Und dass nach der Ermordung George Floyds sogar Leute in Südkorea demonstrierten, ist schlicht absurd und hat mehr mit hysterischem Mitläufertum zu tun als mit dem eigentlichen Anlass. Im Buch schildere ich fiktionale Manien und ihre Mechanismen – das ist dort nicht rechts oder links, aber nah dran an gewissen rechten wie linken Diskursen.
Diese Offenheit des Buchs, die auch durch die satirische Tonlage entsteht, fesselt. Trotzdem haben rechte Kreise den Roman für sich als bissige Woke-Kritik gefeiert. Zu Recht?
Ja und nein. Ich lasse mich nicht vereinnahmen. Schon mit 8 Jahren lehnte ich mich gegen meine streng presbyterianischen Eltern auf und ging nicht mehr zur Kirche. Das hat sie sehr aufgeregt. Aber es war nicht so schlimm wie bei meiner «Mania»-Protagonistin mit ihren Zeugen-Jehovas-Eltern. Sie ist wie ich eine gegen den Strich gebürstete Einzelgängerin, die stets die Autoritäten und das Umfeld hinterfragt. Während Covid war ich auch eine der Ersten in Grossbritannien, die den Lockdown öffentlich infrage stellten.
Nun ja.
Das bringt mir nicht nur Freunde ein, ich weiss. Ich vermute, dass diese Unfähigkeit, im Mainstream mitzuschwimmen, auch ein evolutionärer Mangel meinerseits ist. Menschen wie ich sind immun gegen Massenhysterie, treiben es mit dem Widerspruchsgeist aber vielleicht auch mal zu weit. Als Spezies sind wir Herdentiere, wer aus der Herde ausschert, kommt um. Deshalb ist der Pragmatismus, auch der Opportunismus, eine evolutionäre Errungenschaft. Der einzige passagenweise tragische Ton in «Mania» entsteht denn auch dadurch, dass die Freundschaft zwischen der widerspenstigen Heldin und ihrer langjährigen Busenfreundin wegen deren Opportunismus zerbricht. Darf ich noch etwas anderes Kontroverses loswerden?
Bitte!
Irrationalen Absolutismus sehe ich auch in der Klimabewegung. Mir macht diese Debatte Sorgen, weil man nichts mehr in Zweifel ziehen darf – für mich eine «red flag». Falsifizierbarkeit und auch die Machbarkeit sollten im Gespräch über den Klimawandel eine Rolle spielen. Die Klimabewegung fordert Unmögliches. So schnell so viel Elektrizität auf saubere Art herstellen und ohne fossile Brennstoffe auskommen: Das geht nicht. Aber nie würde ich unterstützen, dass man die Forschung einstellt oder ihre Resultate verheimlicht, wie die Trump-Regierung es versucht. Selbst die US-Wetterzentren sind in Gefahr. Da bin ich persönlich betroffen.
Wieso?
Ein Neffe von mir, der auf dem autistischen Spektrum ist, war von Kindheit an ein Wetterfanatiker. Als er nach dem Studium und einer Zeit der Arbeitslosigkeit einen Job beim Wetterservice bekam, ging für ihn ein Traum in Erfüllung. Er hat all seine Kraft da hineingesteckt und leistet wirklich gute Arbeit. Nun könnte ihm bald gekündigt werden, weil die Trump-Administration die angeblich woken Wetterdienste eindampfen will. Hunderten wurde bereits gekündigt. Das ist nicht sinnvoll. Überhaupt bringt das Sparen bei den Bundesbehörden nichts, der Lohn ihrer Angestellten machen nur rund 3 Prozent des US-Budgets aus. Es geht gar nicht ums Geld.
Sondern?
In den Behörden gibts viele Leute mit demokratischen Sympathien. Die will man herausjäten. Das ist irrational. Was ich bei Trump ausserdem scharf kritisiere, ist sein Verhalten gegenüber Wladimir Putin. Es ist bizarr. Putin ist – und diese Vokabel verwende ich äusserst selten – böse, abgrundtief böse; und Trump verhandelt sehr schlecht, gibt alle Trümpfe schon vorab aus der Hand. Ich verstehe das nicht. Nichts wäre mir lieber, als dass die Ukraine gewinnt und ihr gesamtes Territorium behält. Aber ich fürchte, das wird nicht geschehen.

Putins Unterstützung der Brexit-Wahl hat Sie aber nicht gestört.
Das würde ich so nicht sagen. Was stimmt, ist, dass ich, anders als mein Umfeld in London, den Brexit befürwortet habe. Wie in den USA fand ich im Königreich den Umgang mit illegal Eingewanderten zu lax. Aber es hat sich herausgestellt, dass die Chancen des Brexit vertan wurden: Jetzt ist die Einwanderung noch unkontrollierter. Sie lassen viel mehr Leute rein, als sie unterbringen können. Im Nachhinein war der Brexit die soziale Disruption und die Hysterie, die er mit sich brachte, nicht wert. Ich persönlich verlor darüber eine Freundschaft. Grundsätzlich aber ist die Aufregung über den EU-Ausstieg seltsam: Schaut die Schweiz an, da gilt es nicht als Weltuntergang, nicht in der EU zu sein!
Wie sehen Sie die EU?
Die EU ist zu etwas herangereift, das so nie geplant war: ein überdimensioniertes Monster statt eines schlanken, handlungsfähigen ökonomischen Blocks und Handelsverbands. Jetzt ist es ein riesiger, undemokratischer Geldtransferapparat, der Probleme mit der illegalen Einwanderung hat.
Das Thema Immigration lässt Sie nicht los. Ihr just abgeschlossener, noch unpublizierter Roman beschäftigt sich ebenfalls damit.
Es ist nicht so, dass ich meine Leser vor den Kopf stossen will. Manchmal werde ich da missverstanden. Doch mich interessieren neue Perspektiven. Ich möchte auch mich selbst beim Schreiben überraschen. Ein Buch über einen armen Immigranten zu schreiben, der es nach einem schweren Hindernislauf zu einem besseren Leben bringt: Das ist ein akzeptables narratives Konstrukt. Aber für mich eben auch ein langweiliges. Ich muss fühlen, dass ich eine Leerstelle besetze.

Wurden Sie nie zensiert oder von den «sensitivity readers» des Verlags zu Änderungen gezwungen?
Ich persönlich konnte bisher schreiben, was ich wollte. Ich habe da, glaube ich, Glück. Aber am schlimmsten in der Kunst ist ohnehin nicht die Zensur, sondern die Selbstzensur. Viele Autoren und Autorinnen scheinen sich vor Shitstorms und Karrieretod zu fürchten. Wer könnte es ihnen verdenken? Auch in der Literaturszene herrscht eine Manie, und das Abweichen vom progressiven Dogma ist ein Wagnis.
Ist die Verfolgung von rechts, etwa auf Elon Musks Plattform X, nicht deutlich brutaler und undifferenzierter?
Ich mag keine Bullys, keine Unterdrückung und keine Intoleranz, weder von rechts noch links. Ich mag ehrlichen Konflikt. Ich will keine Bücher lesen, die nur den letzten Trend nachplappern. Und ich selbst will Bücher schreiben, die noch nicht geschrieben worden sind.
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