99-Prozent-InitiativeUmgesetzt würde wohl eine Minimalvariante
Die vage Formulierung der 99-Prozent-Initiative lässt den Gegnern viel Spielraum – im Abstimmungskampf, aber auch bei der Umsetzung im Fall einer Annahme.
Wer würde bei einer Annahme der 99-Prozent-Initiative steuerlich stärker belastet? «Wahrscheinlich wären auch Katzenbabys betroffen»: Mit diesem Kommentar machte sich jüngst ein Twitter-User über die Nein-Kampagne lustig. Der Grund: Laut den Gegnerinnen und Gegnern müsste ein grosser Teil der Bevölkerung mehr Steuern zahlen. Glaubt man den Initiantinnen und Initianten, würde dagegen nur das reichste Prozent der Bevölkerung stärker belastet. 99 Prozent würden entlastet.
Wer recht hat, hängt weitgehend von der Umsetzung ab. Die Initiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» der Juso – kurz 99-Prozent-Initiative – zielt auf jene, die von Kapitaleinkommen leben. Dieses soll ab einem bestimmten Schwellenwert anderthalbmal so stark besteuert werden wie Lohneinkommen.
Die Initiative definiert aber nicht, was als Kapitaleinkommen zählt, und sie lässt offen, ab welchem Schwellenwert die höhere Besteuerung gelten soll. Auch zur Frage, wie die Mehreinnahmen verwendet werden sollen, bleibt der Initiativtext vage. «Diese Unsicherheiten übersteigen das übliche Mass an Unklarheiten bei einer Volksinitiative erheblich», sagte Finanzminister Ueli Maurer, als er die Argumente des Bundesrats gegen die Initiative präsentierte.
Maximale Variante im Abstimmungskampf
Das lässt der Gegnerschaft – allen Parteien mit Ausnahme von SP und Grünen – viel Spielraum im Abstimmungskampf. Die Gegnerinnen und Gegner könnten beliebig viel hineininterpretieren, sagen der Politologe Claude Longchamp und der Politgeograf Michael Hermann.
Und das tun sie: Das Nein-Komitee geht davon aus, dass nicht nur hohe Zinserträge, Dividenden und Börsengewinne, sondern auch Grundstückgewinne, der Eigenmietwert oder KMU-Geschäftsübergaben stärker besteuert würden – Dinge, die mehr als bloss das reichste Prozent der Bevölkerung betreffen.
Die Thurgauer SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr vom gegnerischen Wirtschaftskomitee spricht von 70’000 Unternehmen, die in den nächsten fünf Jahren eine Nachfolgeregelung einleiten wollten und somit betroffen wären. Von diesen Unternehmen hingen rund 500’000 Arbeits- und Ausbildungsplätze ab.
Minimale Variante bei der Umsetzung
Die Vagheit der Initiative erlaube es, einen maximalen Geltungsbereich anzunehmen, sagt Michael Hermann. Im Fall einer Annahme der 99-Prozent-Initiative würde jedoch kaum das Maximum umgesetzt. Im Gegenteil: «Umgesetzt würde voraussichtlich eine Minimalvariante.»
Für die Umsetzung auf Gesetzesebene ist das Parlament zuständig, das bürgerlich dominiert ist und sich mit grosser Mehrheit gegen die Volksinitiative ausgesprochen hat. Bei der Umsetzung könnten die Gegner den Schwellenwert sehr hoch ansetzen, den Begriff des Kapitaleinkommens so eng wie möglich fassen und Ausnahmen formulieren.
«Wenn das Parlament eine Initiative verwässern will, hat es viele Mittel in der Hand», sagt Claude Longchamp. So sei das Schweizer Initiativrecht. Und Michael Hermann hält fest: «Die Vagheit stellt für die Initianten ein doppeltes Risiko dar. Sie macht es den Gegnern sowohl einfacher, sie zu bekämpfen, als auch einfacher, sie im Fall einer Annahme zu verwässern.»
Dass die Initiative dank der Vagheit dafür als weniger radikal wahrgenommen wird und dadurch grössere Chancen hat, glauben die Experten nicht. Bei dieser Frage sei der Absender wichtiger als die Formulierung des Textes.
«An den Haaren herbeigezogen»
Bekämpfen die Gegnerinnen und Gegner also eine Variante, die sie im Zuge der Umsetzung niemals zulassen würden? Natürlich würde sie sich für eine Umsetzung einsetzen, die unter anderem Geschäftsübergaben nicht verteuern würde, sagt SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr. Dies wäre die wichtigste Abschwächung. «Aber man weiss nie, wie es herauskommt.» Deshalb setze sie sich für ein Nein ein.
Juso-Präsidentin Ronja Jansen findet die gegnerischen Behauptungen zum Kreis der Betroffenen «an den Haaren herbeigezogen». Was die Initiative wolle, gehe schon aus dem Namen hervor: «Eine Entlastung der 99 Prozent und eine höhere Besteuerung des reichsten Prozents.» Das reichste Prozent sei nicht die halbe Schweiz.
Liste der Auslegungsfragen ist lang
Allerdings ist bei der Umsetzung nicht allein der Wille der Initiantinnen und Initianten ausschlaggebend. Darauf weist der Bundesrat in seiner Botschaft zur 99-Prozent-Initiative hin. Zu berücksichtigen sei, was das allgemeine Verständnis des Initiativtexts gewesen sei, schreibt er. Die Liste der Auslegungsfragen, die sich im Fall einer Annahme stellen würden, umfasst in der bundesrätlichen Botschaft sechs Seiten.
Ob eine Initiative die allgemeine Stossrichtung oder detaillierte Bestimmungen enthalten sollte, hängt auch vom Thema ab. Claude Longchamp nennt die Initiative «für einen arbeitsfreien Bundesfeiertag» als idealtypisches Beispiel. Dieses Volksbegehren liess keine Fragen offen, weder im Abstimmungskampf noch bei der Umsetzung.
Bei komplexeren Themen unterscheidet Longchamp zwischen der verfassungsrechtlichen und der kommunikativen Perspektive: Aus verfassungsrechtlicher Sicht sollte der Initiativtext so allgemein wie möglich formuliert sein, aus Sicht der politischen Kommunikation so konkret wie möglich. Der 99-Prozent-Initiative hält Longchamp zugute, dass sie knapp formuliert ist und keinen umfassenden Forderungskatalog enthält.
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