Treffen des Titanic-Vereins SchweizUm 02.18 gingen auf der Titanic die Lichter aus
14. April 1912 auf dem Nordatlantik: Der Moment, als das Schiff mit dem Eisberg kollidiert, treibt noch heute Millionen von Menschen um. Weshalb? Besuch bei Titanic-Freaks am Bodensee.
Faszination Titanic: Beim Treffen des Titanic-Vereins Schweiz an einem verlängerten Maiwochenende in Arbon am Bodensee hat Christian Wagner ein Modell aus Lego aufgestellt, mit Beleuchtung, Massstab 1 zu 200, 9090 Teile.
Das Ehepaar Beate und Uli Sauer hat dem Kunstmaler David Olivera zuvor Fotos von sich geschickt. Jetzt übergibt ihnen Olivera, der in Miami lebt und eigens für das Treffen angereist ist, das im Auftrag angefertigte Gemälde: das Ehepaar Sauer, gekleidet wie zu Beginn der 20. Jahrhunderts, als Passagiere auf der Titanic-Gangway dem Betrachter glücklich entgegenlächelnd. Das könnte man auch für ein eher makabres Sujet halten, aber Beate und Uli Sauer sind begeistert.
Oder Günter Bäbler. Er hat den – laut Website – «bis heute weltweit einzigen Titanic-Verein in einem Binnenland» vor mehr als 30 Jahren mitbegründet. Und er hat die interaktive Karte titanicmap.org geschaffen, auf der weltweit alle Gräber von Passagieren und Besatzungsmitgliedern, ob Opfer der Katastrophe oder Überlebende, verzeichnet sind. Ausserdem jeder Friedhof, jeder Gedenkstein, jede Inschrift und jedes Titanic-Museum – inklusive genauer Positionsangabe und Foto.
«Natürlich haben wir alle einen Flick weg.»
Und natürlich lässt sich die Route des Schiffes nachverfolgen, von seinem Auslaufen in Southampton am 10. April 1912 bis zur geschätzten Position am 14. April um 23.40 Uhr – dem Moment, der die am Bodensee Versammelten umtreibt wie kaum etwas anderes.
Günter Bäbler sagt: «Natürlich haben wir alle einen Flick weg.» Mit «wir» meint Bäbler – schwarzes T-Shirt und schwarze Jeans, kurze Haare, Wochenbart mit grauen Strähnen, freundlich-neugierige Augen – die knapp 700 Mitglieder des Titanic-Vereins Schweiz. Wenn sie von ihrer Leidenschaft sprechen, lassen auch andere der rund drei Dutzend Personen in Arbon Selbstironie anklingen. Sie gehöre zu den «Bekloppten», sagt die deutsche Journalistin Brigitte Saar, seit sie als Kind ein Buch über den Untergang der Titanic gelesen und zunächst gedacht habe, eine derart erschütternde, mitreissende, verwickelte Geschichte müsse erfunden sein.
Sie tauchen zum Wrack
Danach habe sie nicht mehr aufgehört, darüber zu lesen, und vor einigen Jahren sei sie zum Wrack getaucht. Saar ist Vizepräsidentin des Schweizer Vereins, obwohl sie in München lebt. «Schon die Fahrt zur Stelle im Nordatlantik, an der sich so viele Schicksale entschieden haben, war aufwühlend», sagt sie. Insgesamt elf Stunden habe der Tauchgang gedauert, in einer Kapsel von 2 Meter Durchmesser, zwei Passagiere und ein Pilot. «Die Lampen über der berühmten geschwungenen Freitreppe hängen noch immer an Stromkabeln.» Der Bug, der sich schon vor dem Versinken stark mit Wasser gefüllt habe, sei noch erstaunlich intakt, während das Heck wegen des äusseren Wasserdruckes zerstört worden sei und heute aussehe «wie eine explodierte Sardinenbüchse».
Zwei Drittel der Titanic-Interessierten in Arbon sind Männer, die meisten älter als 50, fast alle tragen sie T-Shirts, Bluejeans und Turnschuhe. Sie besichtigen das Saurer-Museum: Web- und Stickereimaschinen sowie Lastwagen. Ein Angestellter lässt probeweise die Bandwebmaschine 60B, Serieneinführung 1939, rattern, später steht die Gruppe vor dem himmelblauen Saurer-VBZ-Stadtbus «Foifevierzgi», Baujahr 1933, 67 PS.
Die Geschichte des deutsch-amerikanischen Stickereimagnaten Arnold Bedix Heine, der in Arbon binnen kurzer Zeit ein Unternehmen mit phasenweise 2200 Angestellten hochgezogen und später in den Ruin geführt hatte, ist eine Fussnote im Titanic-Drama – und der Grund, weshalb der Titanic-Verein Schweiz heute das Museum besucht. Heine flüchtet 1911 in die USA, später reisen ihm zwei seiner Gläubiger nach, nämlich der Verwaltungsratspräsident des Bankvereins, Oberst Alfons Simonius-Blumer, sowie der Rechtsanwalt Max Staehelin-Maeglin, Direktor der Bankverein-Tochter Schweizerische Treuhandgesellschaft.
Die beiden Basler Geschäftsleute schiffen sich auf der Titanic ein (erste Klasse natürlich) und überleben deren Untergang. In New York treffen sie sich mit Heine, und es gelingt ihnen, sich mit ihm zu einigen. Günter Bäbler hat darüber das Buch «Stickereiverstrickungen auf der Titanic. Ein Wirtschaftsdrama zwischen Arbon und New York» geschrieben.
Abgesehen davon, dass sich seine Mitglieder einmal jährlich treffen, gibt der schweizerische Titanic-Verein vierteljährlich ein digitales Magazin namens «Titanic Post» heraus. Seine Mitglieder tauschen sich im Internet aus, und ab und zu organisiert der Verein eine Reise, etwa nach Belfast, wo das Schiff gebaut wurde, oder zu einem Friedhof, auf dem viele Passagiere liegen. Es gibt auch in Deutschland, Skandinavien und Kroatien Titanic-Vereine, und besonders häufig haben sich Interessierte in Grossbritannien und den USA organisiert.
Phasenweise habe sie in sieben Vereinen gleichzeitig mitgemacht, sagt Brigitte Saar. Die Schweizer Organisation sei eine der grössten und aktivsten der Welt. Laut Linda von Arx-Mooser, die den Verein damals gemeinsam mit Günter Bäbler gründete, hatte er zunächst zwölf Mitglieder. Gross sei der Andrang gewesen, als 1997 der Film mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio in die Kinos gekommen sei. Etwa die Hälfte der heutigen Mitglieder stammten aus Deutschland, einige auch aus Österreich, den USA und Grossbritannien.
«Ich interessiere mich für die Biografien der Opfer und dafür, wie die Geretteten das Ereignis später bewältigt haben», sagt Linda von Arx-Mooser. Sie und Günter Bäbler haben sich in einer Bibliothek in Uster kennen gelernt, in der sie beide die Familiengeschichte von Schweizer Passagieren erforschten. Sie finde die Form der Titanic mit ihren vier Kaminen unglaublich schön. Sie sei erschüttert von einem Schicksal wie jenem des Ehepaars Josef und Josefine Arnold, das sich auf die Titanic eingeschifft habe, um in den USA ein neues Leben zu beginnen. Ihren kleinen Bub liessen sie vorläufig bei einer Verwandten in der Schweiz zurück, später sollte das Kind nachreisen. Bloss wurde es in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 Vollwaise.
Brigitte Saar treibt um, wie genau man die Verkettung der Zufälle und Umstände rekonstruieren kann, die zur Katastrophe führten. Sie interessiere sich besonders für Biografisches und Historisches, aber es sei unglaublich, wie viele Interessen sich mit der Titanic verknüpfen liessen: Mechanik, Technik und Nautik, Bau und Ausstattung des Schiffes, die damalige Kulinarik auf Luxusdampfern, Mode, Sitten und Umgangsformen, die Gräben zwischen den gesellschaftlichen Klassen.
Ein Hobby, so anspruchsvoll wie ein Job
Ausserdem die damalige Passagierschifffahrt als einträgliches globales Business, die Konkurrenz zwischen den Reedereien. Oder die Physik von Meeresströmungen und Eisbergen, die Meeresbiologie in 3800 Metern Tiefe, die Bakterien, die das Wrack allmählich zersetzen, bis irgendwann in ferner Zukunft nichts mehr von ihm übrig bleibt. Auch Bäbler schildert die Titanic als eine Art ideellen Brennpunkt, der unterschiedlichste Interessen bündle und ihn in den letzten drei Jahrzehnten zu vielen Reisen bewogen habe, auf denen er Kontakte geknüpft und Freunde gefunden habe.
Seinen Beruf umschreibt Bäbler mit «etwas im Bereich Import-Export», aber die Beschäftigung mit der Titanic nehme ihn mittlerweile fast genauso in Anspruch. «Wenn man einmal damit angefangen hat, kommt man vom Hundertsten ins Tausendste. Das Ganze hat sicher einen Suchtfaktor – aber es ist keine Sucht, die Schaden anrichtet.»
Bevor die Bestände des Bundesarchivs und anderer Archive digitalisiert wurden, hatte Bäbler 1500 Kopien angefordert: Berichte, Gerichtsakten, Forderungen und Korrespondenz von Hinterbliebenen, Familienscheine, Dokumente von Reedereien. Er besitzt Originalbriefe von Passagieren und Angehörigen, Hochzeitsfotos von Opfern und Überlebenden, und einmal habe ihm die Familie eines Überlebenden eine Ausweiskarte der Stadt Zürich für Radfahrer geschenkt. «Es war jemand, der auswandern wollte und sein Velo mitnahm. Den Ausweis fand man in seinem Nachlass. Die Angehörigen hätten gerne auch das Velo zurück, aber das bleibt unten», sagt Bäbler.
Die «New York Times» schrieb schon über die Kollision, als die Titanic noch gar nicht gesunken war.
Zu den Raritäten in seinem Besitz gehört auch der Andruck – das ist eine probeweise gedruckte Seite – der «New York Times»-Titelseite für die Morgenausgabe des 15. April 1912. Darauf sei zu lesen, dass die Titanic mit einem Eisberg kollidiert sei, erläutert Bäbler. Das Erstaunliche: Der Andruck sei zu einem Zeitpunkt entstanden, als das Schiff zwar bereits beschädigt, aber noch nicht im Meer versunken sei.
Auch dies gehört zur Faszination Titanic: wie schnell sich die Nachricht vom Unglück dank Funk verbreitete. Und wie lange trotzdem das Gerücht umging, es seien alle Passagiere gerettet worden.
Was Bäbler gerade besonders beschäftigt: Vor wenigen Tagen haben Spezialisten das bisher umfangreichste dreidimensionale Modell des Titanic-Wracks präsentiert, wofür sie rund 700’000 Unterwasseraufnahmen verwendeten. Detaillierter, plastischer, eindrücklicher konnte man das Wrack am Bildschirm noch nie besichtigen. Bäbler hat den Verantwortlichen des digitalen Titanic-Scans bereits um ein Interview für die «Titanic Post» gebeten.
Nach dem Rundgang durch das Saurer-Museum setzen sich die Vereinsmitglieder zu einem Spielnachmittag mit Titanic-Brettspielen und -Karten zusammen. Bei einigen Spielen geht das Schiff unter, andere enden pietätshalber schon vorher, bei einem Quiz im Stile von Trivial Pursuit stellen sich den Spielenden Multiple-Choice-Fragen wie: «Die Titanic sank um 2.20 Uhr. Bis zu welcher Uhrzeit funktionierte die Beleuchtung des Schiffes?» (Bis 2.18 Uhr.) Oder: «Auf wie vielen Friedhöfen in Halifax liegen Titanic-Opfer?» (Auf drei.)
Günter Bäbler legt ein Set mit Original-Spielkarten der Reederei White Star Line, zu welcher die echte Titanic gehörte, neben die Lego-Titanic – Karten also, die auf dem Schiff hätten sein können. Er bittet die Anwesenden, sie mit äusserster Sorgfalt hervorzunehmen.
Beate Sauer – das ist die Teilnehmerin auf dem eigens angefertigten Gemälde – erzählt, wie sie einmal bei einem Essen des Vereins Millvina Dean kennen gelernt habe, die mit ihren damals zweieinhalb Monaten die jüngste Person auf dem Schiff gewesen war. Dean habe ihr ein Autogramm mit persönlicher Widmung gegeben.
David Olivera – der Maler aus Miami – sagt, er wisse eigentlich gar nicht so viel über die Titanic. Wichtig sei für ihn die Erfahrung, sich gemeinsam mit anderen für etwas zu interessieren.
Das jüngste Mitglied des Vereins ist der zwölfjährige Moritz. Ihn beschäftigt die Frage, wie das Unglück passieren konnte und weshalb so viele Rettungsboote halb leer blieben. In seiner Klasse sei er der Einzige, der sich für die Titanic interessiere. «Die anderen lachen mich nicht aus deswegen. Es ist ihnen einfach egal», sagt er.
An einem der Spieltische sitzt der Zürcher Autor Stefan Ineichen. Er hat über die Schweizer Passagiere des Dampfers das Sachbuch «Endstation Eismeer» geschrieben, und er ist es, der die anhaltende Faszination für die Katastrophe nicht nur individuell, sondern auch historisch und philosophisch erklärt: die Titanic als Symbol für den menschlichen Irrglauben, die Kräfte der Natur dank technischer Errungenschaften endgültig beherrschen zu können.
Die Unterteilung in Ober-, Mittel- und Unterdeck mit ihren abgetrennten Bereichen als Sinnbild für eine kalte Klassengesellschaft. Oder, im Gegenteil, die Titanic als Symbol für die hoffnungsfrohe Zeit vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs und ihr Versinken als Sinnbild für den Untergang der Belle Époque.
Ineichen führt ab und zu Besichtigungen unter dem Titel «Titanic im Seefeld» durch: zwei Zürcher Familien, die eine reich, die andere arm, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts beide wohnhaft im Zürcher Seefeld. Sie reisten beide auf der Titanic, aufgrund des Klassenunterschieds natürlich, ohne sich zu kennen. Die Villa der reichen Familie sowie einige Häuser, in denen die arme Familie in schneller Abfolge billige Wohnungen mietete, stehen heute noch. Ineichen zeigt sie bei seinen Führungen.
«Da bricht eine Welt zusammen»
Manchmal geht es allerdings selbst Günter Bäbler zu weit. Gegenwärtig herrsche innerhalb der internationalen Titanic-Community eine gewaltige Aufregung. Denn ein Forscher sei auf Indizien gestossen, wonach der mittlere von drei Antriebspropellern am Heck der Titanic nicht vier Propellerblätter gehabt habe, wie man bisher gemeint habe, sondern nur drei. «Da bricht für manche Experten eine Welt zusammen», sagt Bäbler, «es gibt deswegen Shitstorms auf Facebook, Modellbauer streiten sich, ob sie nun den mittleren Propeller auswechseln müssen.» Ein solcher Aufruhr sei selbst für einen Titanic-Freak wie ihn nicht mehr nachvollziehbar, sagt Bäbler.
Armin Zeyher erzählt, er baue im Esszimmer seines Hauses an einem Titanic-Modell, seit drei Jahren, während Hunderten von Stunden. Seine mit bayrischem Akzent geäusserte Antwort auf die Frage, warum er dies tue, wirkt angesichts des Schicksals der Titanic wie eine metaphorische Pointe. «Na, warum steigt man auf ’nen Berg? Damit man runterschauen kann.»
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