156. Kriegstag in der UkraineUkrainische Gegenoffensive im Süden nimmt Fahrt auf
Im Kampf um die Rückeroberung von Gebieten bringen die Ukrainer die Invasoren in Bedrängnis. Die Stadt Cherson soll von den anderen besetzten Gebieten abgeschnitten sein.
Die ukrainische Armee will bis September die Region Cherson mit der gleichnamigen Grossstadt nördlich der Krim zurückerobern. Seit einigen Tagen berichten westliche Militärbeobachter von Fortschritten der Ukrainer bei ihrer Gegenoffensive im Süden des Landes. Im Gebiet Cherson ist es dem ukrainischen Militär dank westlicher Artilleriegeschütze gelungen, drei Brücken über den Fluss Dnipro so zu beschädigen, dass diese für russische Militärtransporte nicht mehr genutzt werden können.
Darunter ist die 1000 Meter lange, strategisch sehr wichtige Antoniwka-Brücke in der Nähe der Stadt Cherson, wo vor dem Krieg rund 300’000 Menschen lebten. Videos, die in den sozialen Medien kursieren, zeigen die Krater zahlreicher Raketeneinschläge auf der Brücke, die sowohl letzte als auch diese Woche mit einem von den USA gelieferten Himars-Mehrfachraketenwerfer beschossen worden sein soll. (Lesen Sie auch den Artikel «Russland fürchtet Raketenwerfer und droht mit Ausweitung des Krieges».)
Russische Truppen am Westufer des Dnipro sind sehr verwundbar
Durch die Zerstörung wichtiger Brücken wollen die ukrainischen Streitkräfte die russischen Truppen von den Nachschublinien abschneiden und isolieren. «Dem Feind werden wir Munition, Treibstoff, Kommunikation und Führungsstab nehmen», liess Oleksi Arestowytsch, ein hochrangiger Berater von Präsident Wolodimir Selenski, verlauten. «Danach werden wir die Überreste der russischen Armee beseitigen.» (Lesen Sie zum Thema den Artikel «Der militärische Druck der Ukraine wächst».)
Nach Darstellung des britischen Verteidigungsministeriums, das sich auf Geheimdienstinformationen beruft, haben die Russen wichtige Nachschubrouten verloren. Das erschwere den Invasoren die Versorgung der besetzten Gebiete und mache ihre Truppen, die am Westufer des Dnipro stationiert seien, sehr verwundbar. Ausserdem sei die Stadt Cherson inzwischen von den anderen besetzten Gebieten abgeschnitten. «Der Verlust der Stadt würde den russischen Versuch, die Südukraine zu besetzen, massgeblich beeinträchtigen.»
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Gemäss Kriegsbeobachtern hat die russische Armee begonnen, «massive Truppenverlegungen» vom Donbass in den Süden vorzunehmen. Cherson entwickelt sich zum Schauplatz einer sehr wichtigen Schlacht für den weiteren Kriegsverlauf. Gelingt den Ukrainern die Rückeroberung Chersons, werden die Russen hinter den Dnipro zurückgedrängt. Russland hatte die Region am Schwarzen Meer kurz nach Kriegsbeginn Ende Februar eingenommen. Die Besatzer erwägen eine Volksabstimmung für einen Beitritt Chersons zu Russland.
Für die Russen ist die besetzte Landverbindung vom Donbass zur Krim von grosser Bedeutung, auch mit Blick auf weitere Kriegsziele in Richtung Westen, etwa auf die Eroberung von Odessa. «Der Kampf um Cherson könnte zum Wendepunkt im Ukraine-Krieg werden», kommentierte der australische Militärexperte und Ex-General Mick Ryan. Präsident Wolodimir Selenski hatte sich vor einigen Tagen siegessicher gezeigt. Er erklärte, dass sich die ukrainischen Truppen in der Region Cherson «Schritt für Schritt vorwärtsbewegen».
Steht also die Wende im Krieg bevor? Der deutsche Militärhistoriker Sönke Neitzel sagt, dass die militärische Lage sehr schwer einzuschätzen sei: «Es ist klar, dass die Ukraine diesen Brückenkopf beseitigen sollte, weil man von Cherson aus Richtung Mikolajiw und Odessa vorstossen kann. Und die neuen Himars-Raketenwerfer helfen sicherlich, damit die Russen sich zumindest ein Stück weit zurückziehen.» Aber: «Die Ukrainer haben bisher nirgends eine schwer befestigte russische Stellung durchbrochen.»
Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung
Wie andere Militärexperten betont Neitzel den Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung und warnt vor zu hohen Erwartungen im Westen. «Beim Angriff ist die Koordination von Artillerie, Luftwaffe, Infanterie, Panzern und vielleicht auch noch Cyberangriffen eine Wissenschaft für sich. Der Beweis, dass die Ukrainer das beherrschen, steht noch aus.» Es gebe bereits lokale Gegenangriffe, aber nichts im grossen Stil. «Es würde mich sehr wundern, wenn die Ukrainer es schaffen, Cherson zurückzuholen, so wünschenswert es auch wäre.»
Ausgeschlossen werden könne eine erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive aber natürlich nicht, ergänzt Neitzel. Wahrscheinlich würde sie den Charakter des Krieges stark verändern. (Lesen Sie zum Thema auch das Interview mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten Denis Schmihal: «Unsere Waffen schweigen erst, wenn wir alles zurückerobert haben».)
«Wenn die Ukrainer es schaffen, die Russen hinter den Dnipro zurückzudrängen, dann wäre das eine grosse Niederlage für die Russen», führt der Militärexperte Neitzel weiter aus. «Deshalb erwarte ich bei Cherson sehr heftige Kämpfe. Ob die Ukrainer das dann durchhalten, ist aber nicht klar.»
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