Ukraine startet GegenoffensiveUkraine meldet massive Angriffe, Militärexperten sind skeptisch
Die Ukraine spricht von mehreren Erfolgen an der Front bei Cherson, die Russen wiegeln ab. Noch gibt es nur wenig gesicherte Informationen.
Präsident Wolodimir Selenski hat der ukrainischen Bevölkerung immer wieder eine gross angelegte Rückeroberung versprochen. Nun sind seine Truppen offenbar tatsächlich zur Gegenoffensive übergegangen und versuchen bei Cherson, die vermeintlich schwache Position Russlands auszunutzen. In der von den Russen besetzten Region sind nach ukrainischen Angaben «schwere Kämpfe» ausgebrochen.
Es habe «den ganzen Tag und die ganze Nacht über starke Explosionen» gegeben, erklärte das Büro des Präsidenten am Dienstag. «Fast das gesamte Gebiet» der Region Cherson sei betroffen. Laut Kiew sollen russische Waffenlager und Kontrollpunkte mit Hochpräzisionswaffen zerstört worden sein. Ausserdem «fast alle grossen Brücken», lediglich «Fussgängerübergänge» seien verblieben.
Das britische Verteidigungsministerium erklärte, der «Umfang des ukrainischen Vorstosses» könne nicht bestätigt werden. Die Armee habe aber das «Artillerie-Feuer an Frontabschnitten im ganzen Süden erhöht». Der US-Sender «CNN» berichtete unter Berufung auf ukrainische Militärquellen, vier Dörfer bei Cherson, darunter Prawdyne, seien erobert worden. Die Angaben waren zunächst nicht überprüfbar. Die Pressesprecherin des Südkommandos der ukrainischen Armee sagte, es sei noch zu früh, von möglichen zurückeroberten Orten zu reden.
Laut einem hochrangigen Berater von Präsident Selenski, Oleksij Arestowitsch, haben ukrainische Truppen mehrere Stellen der russischen Verteidigungslinien durchbrochen. Arestowitsch warnte auf Youtube aber vor zu hohen Erwartungen. Für eine erfolgreiche Gegenoffensive brauche es viel Geduld.
Aus Sicht des ukrainischen Militärexperten Oleh Schdanow kann bislang nicht von einem grossen Gegenangriff gesprochen werden. Die Russen hätten rund um Cherson drei Verteidigungslinien und das Durchbrechen einer davon zeuge nur von isolierten Attacken des ukrainischen Militärs. Durch den Artilleriebeschuss könnten die Russen aber die so wichtigen Brücken nicht mehr benutzen. «Sie können ihre Truppen nahe Cherson nicht aufrechterhalten – das ist am wichtigsten», sagte Schdanow gemäss «dpa».
Erst ein Abtasten?
Das Verteidigungsministerium in Moskau bestätigte ukrainische Angriffe in den Gebieten Cherson und Mykolajiw, sagte aber, sie seien «jämmerlich gescheitert». Demnach hätten die ukrainischen Streitkräfte «in drei Richtungen» angegriffen, aber mehr als 560 Soldaten und 26 Panzer verloren. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Der russische Nationalist und frühere separatistische Feldkommandeur, Igor Girkin, liess auf Telegram verlauten, die Angriffe seien bislang nur als Demonstration gedacht, die Ukraine setze ihre Hauptkräfte noch nicht ein. Zu einem ähnlichen Schluss kamen auch Pentagon-Vertreter, die laut «CNN» vom «Abtasten» der Front sprachen.
Die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass meldete am Dienstagmorgen fünf Explosionen in Cherson, mutmasslich verursacht durch Luftabwehrsysteme. Der von Russland eingesetzte Verwaltungschef Wladimir Leontjew sprach von insgesamt rund 100 Raketen, die die Stadt getroffen hätten.
Offenbar ist zudem die von Russen gehaltene Stadt Nowa Khachowka nach Raketenangriffen ohne Strom und Wasser. Über den dortigen Staudamm des Dnipro läuft eine wichtige Strasse zur Versorgung der russischen Truppen. Die staatliche russische Agentur «Ria Nowosti» zitiert einen Offiziellen, der davon ausgeht, dass der ukrainische Angriff «möglicherweise schrecklichen Folgen» habe.
Für den deutschen Militärexperten Carlo Masala ist die Lage noch verworren. Für ihn steht fest, dass eine Verteidigungslinie der Russen gefallen sei. «Was aber unklar ist, ob dieser Stoss wirklich der Stadt Cherson gilt und wieweit die Ukraine jetzt in der Lage ist, ich sage jetzt mal, mit Verbänden in diese Stadt vorzudringen», so Masala gegenüber «Bayern 2».
Cherson ist strategisch wichtig
Russland kontrolliert rund 20 Prozent des Territoriums der Ukraine. Konzentriert haben sich die russischen Truppen in den vergangenen Wochen auf den Osten und den Süden der Ukraine entlang der Schwarzmeer-Küste. Cherson zurückzuerobern wäre ein grosser Erfolg für die ukrainische Armee und ein heftiger Rückschlag für Moskau. Die Stadt war zu Kriegsbeginn, womöglich auch wegen Kollaborateuren im Geheimdienst und der Stadtverwaltung, fast widerstandslos eingenommen worden.
Strategisch an der Mündung des Flusses Dnipro gelegen, können von hier aus die Städte Odessa, Mykolajiw oder die Krim bedroht werden. «Wenn die Ukrainer über Cherson die Kontrolle haben, haben sie auch die Kontrolle über die Frischwasserzufuhr zur Krim. Das heisst also ein Druckinstrument, um die Russen auch auf der Krim noch weiter unter Druck zu setzen», sagt Militärexperte Masala.
Falls Russland die Stadt verliert, wäre eine Einnahme der südlichen Ukraine auf absehbare Zeit ausgeschlossen. Experten hatten jedoch zuletzt bezweifelt, dass die ukrainische Armee eine Offensive dieser Grösse erfolgreich durchführen kann.
Seit Beginn der Invasion im Februar hat sie fast ausschliesslich Verteidigungsschlachten geführt und Widerstand geleistet. Die Ukraine hat hingegen wenig Erfahrung mit offensiven Operationen, die andere Fähigkeiten, einen zahlenmässigen Vorteil und grosse Reserven an Munition und Truppen erfordern. Die «New York Times» spricht deshalb von einer der «ehrgeizigsten und bedeutendsten Militäraktionen des Krieges».
Briten sehen geschwächte Russen
Laut CNN halten Quellen im US-Verteidigungsministerium den Zeitpunkt der Gegenoffensive für günstig, weil es den Russen nicht gelungen sei, so viele Truppen wie gewünscht an die Front bei Cherson zu verlegen. Auch britische Militärexperten gehen davon aus, dass die russischen Besatzer trotz erheblicher Verstärkungen unter Personal- und Nachschubproblemen leiden. Das geht aus dem Geheimdienst-Update des britischen Verteidigungsministeriums vom Dienstag hervor.
Ob die Russen der ukrainischen Gegenoffensive in der Region standhalten könnten, hänge entscheidend davon ab, ob sich eine Neuorganisation der Invasionstruppen bewähre. «Seit Anfang August hat Russland erhebliche Anstrengungen unternommen, um seine Kräfte am Westufer des Flusses Dnipro um Cherson herum zu verstärken».
Dabei seien die Einheiten im Süden wohl durch Komponenten aus dem Osten ergänzt worden. Das lege eine grundsätzliche Neuorganisation der Kommandostrukturen nahe. Die meisten Einheiten um Cherson seien jedoch wohl weiterhin unterbesetzt und hingen von brüchigen Nachschublinien per Fähre und Pontonbrücken ab.
Politisch steht die Ukraine unter Zeitdruck, weil Russland sich die eroberten Gebiete einverleiben will und mutmasslich für September Volksabstimmungen darüber vorbereitet.
sda/afp/nlu
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