Nato-Treffen in PragDie Ukraine darf jetzt auch nach Russland zurückschiessen
Die ukrainische Armee darf jetzt mit westlichen Waffen auch gewisse Ziele in Russland angreifen. Trotzdem gab es am Nato-Treffen in Prag neue Enttäuschungen für das gebeutelte Land.

Soll die Ukraine mit westlichen Waffen auch auf militärische Ziele in Russland schiessen dürfen? «Ich glaube, es ist die Zeit gekommen, die Einschränkungen zu überdenken», bekräftigte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Prag mit Blick auf rote Linien insbesondere der USA und Deutschlands. Nur wenige Stunde später der Kurswechsel in Washington und Berlin: Zumindest im Raum Charkiw dürfen die ukrainischen Verteidiger mit westlichen Waffen auch Logistik und andere militärische Ziele angreifen.
Russland hat hier eine neue Front eröffnet und beschiesst die zweitgrösste Stadt der Ukraine von Positionen direkt hinter der Grenze. Einmal mehr reagieren US-Präsident Joe Biden und der deutsche Kanzler Olaf Scholz verzögert auf einen russischen Strategiewechsel. Lange hatten die USA und Deutschland Schläge auf russischem Territorium aus Furcht vor einer Eskalation abgelehnt. Verteidigung sei keine Eskalation, betonte Stoltenberg beim Treffen der Nato-Aussenminister. Die Ukraine habe das Recht und die Pflicht, sich zu verteidigen.
Absicherung gegen Trump-Comeback
Das Thema der Einsatzbeschränkungen überschattete das informelle Treffen, das eigentlich den Gipfel von Anfang Juli vorbereiten soll. Die Nato-Verbündeten gehen inzwischen von einem längeren Konflikt aus und wollen die Hilfe zudem mit Blick auf ein mögliches Comeback von Donald Trump absichern.
Bisher gibt es aber zwischen den Verbündeten noch grössere Differenzen darüber, wie ein sogenanntes «Ukraine-Paket» aussehen soll. Enttäuschung in Kiew ist vorprogrammiert, ein Erfolg in Washington nicht garantiert. Mit einem ursprünglichen Plan, die Ukraine über die nächsten fünf Jahre mit neuen Mitteln in der Höhe von 100 Milliarden Euro zu unterstützen, ist Stoltenberg abgeblitzt.

´Diplomaten warnten davor, mit Zahlen zu jonglieren, die nicht abgesichert seien. Es werde da über frisches Geld geredet, das gar nicht vorhanden sei. Mehrere Mitgliedsstaaten befürchten zudem Doppelspurigkeit mit der EU, die Rüstungsgüter mitfinanziert.
In Washington dürften deshalb vor allem bilaterale Beiträge addiert werden. Die Verbündeten hätten die Ukraine in den letzten zwei Jahren mit insgesamt 80 Milliarden Euro unterstützt, sagte Stoltenberg in Prag. Diese Unterstützung müsse in ähnlichem Umfang fortgeschrieben werden.
Nato übernimmt Koordination
Weniger umstritten ist Stoltenbergs Vorschlag, die Militärhilfe neu zu organisieren. Bisher geschah dies ad hoc im US-geführten Ramstein-Format. Neu soll die Hilfe im Rahmen der Nato-Strukturen koordiniert werden. Es sei nötig, über die neue Rolle der Nato zu reden, um Lücken und Verspätung bei der Unterstützung der Ukraine in Zukunft zu vermeiden, warb Stoltenberg mit Blick auf Probleme bei Munitionsbeschaffung und Luftverteidigung für seinen Vorstoss.
Dass die Verbündeten oft Mühe haben, ihren Ankündigungen auch Taten folgen zu lassen, zeigt sich auch mit Blick auf die tschechische Munitionsinitiative, 800’000 Artilleriegeschosse ausserhalb Europas aufzukaufen. 15 Staaten hätten angekündigt, sich an der Finanzierung zu beteiligen, doch erst fünf hätten bisher tatsächlich bezahlt, hiess es in Prag.
Einladung für die Ukraine?
Heikles Thema und Teil des Ukraine-Pakets am Gipfel ist auch die Frage einer künftigen Mitgliedschaft im Bündnis. Die Formulierungen seien noch in Diskussion, doch eine Einladung an die Ukraine werde es auch in Washington nicht geben, heisst es. Die Suche nach einer Sprachregelung sei nicht einfach. Damit der Gipfel in Washington zum Erfolg werden könne, sei das richtige Erwartungsmanagement zentral.
Beim letzten Gipfel in Vilnius hatte Präsident Wolodimir Selenski auf den sozialen Medien seine Enttäuschung über die ausgebliebene Einladung verbreitet und für einen Eklat gesorgt. Ähnliche negative Schlagzeilen will man in Washington um jeden Preis vermeiden.

Um negative Schlagzeilen zu vermeiden, wäre auch dringend eine Einigung hinsichtlich der Nachfolge von Jens Stoltenberg nötig, dessen Amtszeit Ende September definitiv ausläuft. Eigentlich sollte Favorit Mark Rutte bereits in Prag als künftiger Generalsekretär ausgerufen werden, der inzwischen die Unterstützung von 29 der 32 Mitgliedsstaaten hat.
Doch im Windschatten von Ungarn blockieren auch die Slowakei und Rumänien, dessen Staatspräsident Klaus Iohannis sich selber als Kandidat ins Spiel gebracht hat, eine Einigung. In Nato-Kreisen zeigt man sich zuversichtlich, dass die Personalie vor Washington geregelt und ein offener Gipfelstreit um die Stoltenberg-Nachfolge vermieden werden kann.

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