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US-Aussenminister in der Ukraine
Es fehlt an allem: Der Krieg ist für Kiew in einer bedroh­lichen Phase

TOPSHOT - United States Secretary of State Antony Blinken walks on Independence Square in Kyiv, on May 14, 2024. US Secretary of State Antony Blinken arrived on May 14, 2024 in Kyiv on an unannounced visit to assure Ukraine of continued American support and the flow of much-needed weapons as Russia presses on with its new offensive in the northeastern Kharkiv region. (Photo by Sergei SUPINSKY / AFP)
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US-Aussenminister Anthony Blinken traf am Dienstag in Kiew ein, es war ein Besuch in einer Stunde der Not. Im Osten des Landes halten erschöpfte, zahlenmässig unterlegene ukrainische Soldaten mit letzten Vorräten an Munition und anderem Material eine russische Armee zurück, die nur ein paar Dutzend Kilometer entfernt von Charkiw, der zweitgrössten Stadt der Ukraine, vorrückt – und sie auch an anderer Stelle unter Druck setzt.

«Wir wissen, dass dies eine herausfordernde Zeit ist», sagte Blinken bei einem Treffen mit Präsident Wolodimir Selenski. US-Waffenlieferungen – laut einem Blinken-Mitarbeiter etwa Artilleriemunition, weitreichende Raketen, Munition für die Luftabwehr – seien auf dem Weg. «Und das wird auf dem Schlachtfeld einen echten Unterschied gegen die fortdauernde russische Aggression machen», so der US-Aussenminister.

Das Versäumnis der Ukrainer

In der Tat ist die militärische Lage herausfordernd: In der Region Charkiw haben die Russen laut dem Militärkorrespondenten Juri Butusow an der Grenze schnell mehrere Dörfer erobert und etwa 100 Quadratkilometer besetzt. Zwar befreiten die Ukrainer das schon zu Beginn der Invasion am 24. Februar 2022 besetzte Gebiet im September 2022.

Doch versäumten sie es, effektive Verteidigungsgräben oder Bunker zu bauen oder auch nur wirksame Minenfelder zu legen, wie der im umkämpften Grenzstädtchen Wowtschansk eingesetzte Aufklärungsoffizier Dennis Jaroslawski nach Beginn des russischen Vormarsches beschrieb.

Ukraine's President Volodymyr Zelenskyy, left, greets U.S. Secretary of State Antony Blinken, right, prior to their meeting in Kyiv, Ukraine, Tuesday, May 14, 2024. Blinken arrived in Kyiv on Tuesday in an unannounced diplomatic mission to reassure Ukraine that it has American support as it struggles to defend against increasingly intense Russian attacks. (Brendan Smialowski/Pool Photo via AP)

Diese Versäumnisse fallen umso stärker auf, als Präsident Selenski im Dezember 2023 sagte, gerade die Region Charkiw sei am besten befestigt. Doch auch diese Redaktion sah im März 2024 bei Besuchen in Grenzorten und anderen potenziell von einem russischen Vormarsch bedrohten Positionen in der Region, dass Befestigungen bestenfalls punktuell existierten.

Ob an der Grenze oder in anderen Gebieten an der knapp 1200 Kilometer langen Front in der Ukraine können die Russen seit Monaten immer leichter angreifen, weil den Ukrainern Munition und Abwehrgeschosse sowohl für ihre eigenen, noch aus Sowjetzeiten stammenden Luftabwehrsysteme wie für schätzungsweise knapp zwanzig verschiedene westliche Systeme zunehmend ausgingen.

Dass etwa Russland vor kurzem selbst das zuvor gut gesicherte grösste Kraftwerk Kiews zerstören konnte, lag laut Selenski daran, dass «uns komplett alle Raketen ausgingen» – und nach sieben abgeschossenen russischen Raketen die nächsten vier das Trypilska-Kraftwerk zerstörten. Nachschub für die Luftverteidigung sei «das grösste Defizit für uns», bekräftigte Selenski gegenüber Aussenminister Blinken.

Spionagedrohnen fliegen ungehindert

Die Schwächen der Luftabwehr und das Fehlen westlicher Kampfjets wie des F-16 aus US-Produktion ermöglichen Russland, immer ungehinderter über der Ukraine zu fliegen und sowohl ukrainische Militärstellungen wie Objekte im Hinterland effektiver zu zerstören. Laut Jack Watling, Ukraine-Spezialist des Londoner Militärforschungsinstitutes RUSI, gelang es Russland wegen der zuvor intakten ukrainischen Luftabwehr lange nicht, ungehindert Spionagedrohnen fliegen zu lassen.

Das sei nun anders: Russische Spionagedrohnen vom Typ Orlan-10 etwa bewegten sich nun ungehindert, flögen sowohl über Charkiw wie noch deutlich weiter von der Front entfernt selbst über die Grossstadt Saporischschja. Die Folge: Russland könne nun ungleich effektiver ausgekundschaftete Ziele mit Raketen oder weitreichender Artillerie zerstören.

TOPSHOT - A man carries an elderly woman out of a police car, after she was evacuated from the frontline village of Lyptsi, at a checkpoint, outside Kharkiv, on May 13, 2024, amid the Russian invasion of Ukraine. Russia on May 13, 2024 pummelled towns and villages in Ukraine's northeastern Kharkiv region days after launching a surprise ground offensive over the border, forcing thousands to evacuate. (Photo by Roman PILIPEY / AFP)

Im Gespräch mit Blinken sagte Selenski unter Anspielung auf das Patriot-System, das leistungsfähigste Luftabwehrsystem aus US-Produktion: «Wir brauchen heute zwei Patriots für Charkiw und die Region Charkiw.» Ob, wann und wie viele Patriot-Systeme Kiew zusätzlich bekommt, ist freilich offen.

Ohnehin fehlt es nicht nur an Patriots und den von ihnen abgefeuerten Abwehrraketen (mit einem Stückpreis von vier Millionen Dollar), sondern auch an deutlich billigeren, jeden Tag zu Hunderten abgeschossenen Drohnen. Militärkorrespondent Butusow, der im umkämpften Grenzort Wowtschansk in der Region Charkiw die Soldaten der 57. Brigade begleitet, meldete, es fehle sowohl der 57. Brigade wie etlichen anderen Einheiten an Drohnen.

Alle Reservisten eingesetzt

General Kirill Budanow, Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, zeichnete am Montag ein düsteres Bild von der Lage im umkämpften Grenzgebiet. «Die Situation steht auf der Kippe», sagte Budanow der «New York Times» per Videocall aus einem Bunker in Charkiw. Die Ukraine habe ihre Reserven eingesetzt. «Leider haben wir niemanden mehr in den Reserven.»

Am Dienstag indes klang Budanow im ukrainischen Fernsehen etwas optimistischer: Die Lage habe sich seit Montagabend stabilisiert. Auch Militärkorrespondent Butusow sprach aus Wowtschansk von einer «verbesserten Lage». Russische Verluste seien stark gestiegen; gleichwohl hätten die Russen wegen ihrer «numerischen Überlegenheit die Initiative».

Gemäss dem Washingtoner Institut für Kriegsstudien deuten russische Aktionen wie das Zerstören wichtiger Brücken darauf hin, dass das russische Militär zumindest jetzt noch keinen Vorstoss auf Charkiw selbst plant, sondern zunächst nur eine bis zu zehn Kilometer tiefe «Pufferzone» an der Grenze auf ukrainischem Gebiet erobern will. RUSI-Analyst Watling indes hält sowohl ein russisches Vorrücken auf Charkiw wie die Ausweitung der russischen Offensive weiter südlich im Donbass in Richtung der ukrainischen Garnisonsstädte Konstantinowka und Kramatorsk nur für eine Frage von Monaten.

Auch an der Front im Süden der Ukraine werde Russland in die Offensive gehen und womöglich die Stadt Saporischschja bedrohen. Nur wenn die westlichen Alliierten der Ukraine ihre Rüstungsindustrien hochführen, Kiew mit deutlich mehr Munition und Luftabwehr und beim Training neuer Soldaten helfe, könne Moskaus kommende Sommeroffensive scheitern und die Ukraine Luft schöpfen, um später selbst wieder die Initiative zu ergreifen.