Umfrage zum Ukraine-KriegFrieden – aber zu welchen Bedingungen?
Die wenigsten Europäer glauben noch an einen Sieg der Ukraine. Uneinigkeit herrscht bei der Frage, ob das Land mehr Waffen braucht oder ob Europa auf Friedensverhandlungen mit Russland bestehen sollte.
Im Kampf gegen den Aggressor Russland steckt die Ukraine seit einigen Monaten in einer schweren Krise. Erst stockten nach einer Blockade im US-Kongress die Waffenlieferungen aus den USA, dann fehlte an der Front die Munition. Zudem fehlen der Ukraine Soldaten. Russland nutzte diese Engpässe und eroberte in den letzten Monaten nicht nur Territorium, sondern zerstörte durch heftigen Beschuss auch sehr viel zivile Infrastruktur.
Den Verbündeten der Ukraine und dem Land selbst drängt sich deshalb zunehmend die Frage auf, wann und unter welchen Bedingungen der Krieg enden könnte. Und ob der Ukraine noch mehr Waffen geliefert werden sollten und ob ein Beitritt des Landes zur Nato sinnvoll ist.
Mitte Mai hat ein Thinktank in 15 Ländern Europas, darunter auch die Schweiz, Menschen zu diesen Themen befragen lassen. Für die Studie im Auftrag des European Council on Foreign Relations (ECFR) nahmen knapp 20’000 Menschen an einer repräsentativ gewichteten Onlinebefragung verschiedener Umfrageinstitute teil. Der ECFR ist eine Denkfabrik, die durch Dialog und Forschung die Meinungsbildung zur europäischen Aussen- und Sicherheitspolitik fördern will.
Unklar, was unter Sieg der Ukraine zu verstehen ist
Die Studie zeichnet das Bild eines Kontinents, der den Krieg ganz unterschiedlich bewertet. Vor allem, was den Ausgang betrifft. In der Ukraine selbst glauben die Menschen immer noch an einen Sieg. Fast 60 Prozent der Befragten rechnen damit, dass ihr Land den Krieg gewinnen wird. Nur 1 Prozent hält einen Sieg Russlands für möglich. In den übrigen Ländern, ausgenommen Estland, rechnet eine Mehrheit der Befragten dagegen mit einem Kompromiss, basierend auf Friedensverhandlungen mit Russland.
«Zwischen der Ukraine und ihren Unterstützern herrscht grosse Uneinigkeit bei der Frage, was unter einem Sieg tatsächlich zu verstehen ist und welches Ziel mit der europäischen Unterstützung erreicht werden soll», sagt Mark Leonard, Co-Autor der Studie und Direktor des ECFR. Die zentrale Aufgabe westlicher Staats- und Regierungschefs sei es deshalb, zwischen diesen Perspektiven zu vermitteln.
In Ländern wie Italien, Griechenland und Bulgarien will eine Mehrheit der Befragten ein schnelles und friedliches Ende des Krieges. Diese Befragten befürworten, dass die Ukraine zu Friedensverhandlungen mit Russland gedrängt wird. In Ländern wie Estland, Schweden und Polen spricht sich dagegen eine Mehrheit dafür aus, die Ukraine so zu unterstützen, dass ein militärischer Sieg gegen Russland möglich ist. In Ländern wie Deutschland und Frankreich sind die Befragten dagegen unentschlossen. Dort gibt es für keine der beiden Positionen eine klare Mehrheit.
42 Prozent der Schweizer für Friedensverhandlungen
In der Schweiz sind 42 Prozent der Befragten der Ansicht, dass Europa die Ukraine dazu drängen sollte, ein Friedensabkommen mit Russland auszuhandeln. Dagegen sind 29 Prozent der Schweizer Befragten der Meinung, dass Europa die Ukrainer dabei unterstützen sollte, für die Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete zu kämpfen.
Auch die Bedrohungslage durch Russland wird in Europa unterschiedlich wahrgenommen. In Portugal, Polen, Grossbritannien und den Niederlanden hält es rund die Hälfte der Befragten durchaus für möglich, dass Russland ein weiteres europäisches Land angreifen könnte. In Bulgarien, Griechenland und Tschechien fühlen sich die Befragten dagegen deutlich sicherer.
In der Schweiz sind es 13 Prozent, die einen Angriff Russlands auf ein weiteres europäisches Land als sehr wahrscheinlich beurteilen. Für 32 Prozent der befragten Schweizer ist das eher wahrscheinlich, f¨ür 27 Prozent eher unwahrscheinlich und für 12 Prozent sehr unwahrscheinlich. (Lesen Sie zum Thema das Interview mit dem estnischen Aussenminister Margus Tsahkna: «Wir wissen, dass Putin Angst hat vor der Nato».)
Ein Krieg zwischen Russland und der Nato wird über alle Länder hinweg für eher unwahrscheinlich gehalten. Die Autoren identifizieren ausserdem einen Stillstand bei der Entwicklung der öffentlichen Haltung, der nicht zu der anhaltenden Dynamik des Krieges passe.
Die Stabilität der öffentlichen Meinung sei «aussergewöhnlich», sagt der zweite Co-Autor der Studie, Ivan Krastev. Über alle Länder hinweg gebe es einen gewissen Konsens, weiterhin Waffen an die Ukraine zu liefern. Mit dem Ziel, «das Land in die bestmögliche Ausgangslage für Verhandlungen über das Ende des Krieges zu bringen», sagt Krastev, der Vorsitzender des Zentrums für liberale Strategien in Sofia ist.
Grosse Mehrheit will keine eigenen Soldaten in der Ukraine
Weil die Ukrainer selbst immer noch fest an einen militärischen Sieg ihres Landes glaubten, seien sie auch weniger bereit zu Friedensverhandlungen, schreiben die Studienautoren – auch wenn sich das manche Europäer anders wünschen würden.
Auf die Frage, ob die Ukraine im Gegenzug für eine Nato-Mitgliedschaft besetztes Territorium an Russland abgeben sollte, antworten 71 Prozent der befragten Ukrainer mit Nein. Würde es dennoch zu Verhandlungen kommen, wäre allerdings eine knappe Mehrheit der Befragten, 45 Prozent, eher dazu bereit, russisch besetzte Gebiete aufzugeben, statt auf eine souveräne Wahl ihrer Bündnispartner zu verzichten.
32 Prozent befürworten ausserdem die Entsendung verbündeter Truppen in die Ukraine. Hier sind sich die Europäer allerdings einig: Während die technische und taktische Unterstützung des ukrainischen Militärs überwiegend auf Zustimmung stösst, will die grosse Mehrheit auf keinen Fall das eigene Militär in die Ukraine schicken.
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