Ukraine-BlogUkrainer trotzen der Russen-Offensive auf Charkiw
Nach heftigen Kämpfen soll sich die Lage in der Grenzregion beruhigt haben. Bei den russischen Vorstössen zeigten sich aber Schwachstellen der ukrainischen Armee.
Rund 30’000 Soldaten haben vergangenen Freitag eine Überraschungsoffensive auf die Region Charkiw gestartet. Die ukrainische Armee wurde vom Angriff überrumpelt und musste ihre Truppen in den folgenden Tagen aus mehreren Dörfern in der Grenzregion zurückziehen. «Die Lage ist äusserst schwierig», liess der regionale Polizeichef Olexi Charkiwski auf Facebook verlauten.
Nach mehreren kritischen Tagen habe sich die Situation in der Region Charkiw beruhigt, verkündete heute der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski auf Telegram. «Heute ist die Lage im Grossen und Ganzen unter Kontrolle.» Seine Soldaten hätten den Russen «erhebliche Verluste» zugefügt. Der Präsident betonte aber auch die Unberechenbarkeit der Situation: «Die Umstände in der Region Charkiw bleiben extrem schwierig. Wir verstärken unsere Einheiten.» (Alle News zum Krieg im Ukraine-Ticker)
Auch der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte meldete am Donnerstag auf Telegram Erfolge in der Region Charkiw. Die Feinde seien gezwungen, die Intensität ihrer Aktionen zu verringern: «Die Pläne des Feindes, einen Keil so tief wie möglich in die Stadt Wowtschansk zu treiben, wurden durchkreuzt.»
Die Kämpfe bei Wowtschansk dauern gemäss der Mitteilung des Generalstabs weiter an. Und im Gebiet um Kupjansk versuchten die Russen, unterstützt von gepanzerten Fahrzeugen, verschiedene Stellungen anzugreifen. Auch in anderen Gebieten in der Region Charkiw seien weitere Gefechte in Gang.
Unabhängig überprüfen lassen sich diese Angaben nicht. Jedoch berichtet auch das US-Institut für Kriegsstudien (ISW), die Intensität der Kämpfe habe abgenommen. Es geht davon aus, dass «die russischen Streitkräfte nicht weiter als acht Kilometer von der Landesgrenze im Gebiet Charkiw vorgerückt sind».
Schwachstellen der ukrainischen Verteidigung
Der ukrainische Militärgeheimdienst soll gemäss einem Bericht des Newsportals UNN über die Pläne des russischen Vorstosses in die Region Charkiw vorab informiert gewesen sein. Trotzdem wirkten die ukrainischen Truppen laut Militäranalysten unvorbereitet. Der russische Angriff offenbarte Schwachstellen der ukrainischen Streitkräfte. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Einerseits verbieten die Amerikaner der ukrainischen Armee, US-Waffen für Angriffe auf Militäranlagen in Russland zu nutzen. Diese Beschränkungen hätten für die Russen nach Einschätzungen des ISW «einen Zufluchtsort in den russischen Grenzgebieten» geschaffen. Dort können die Russen ihre Truppen versammeln, bevor sie in den Kampf gehen. «Die Fähigkeit der Ukraine, sich gegen russische Offensivoperationen in der Region Charkiw zu verteidigen, wird dadurch ernsthaft beeinträchtigt», heisst es im ISW-Bericht.
In Frontnähe sei es wegen des andauernden Beschusses «unmöglich», Stellungen in einem Umkreis von 3 bis 5 Kilometern zu der russischen Grenze zu errichten. Gemäss dem ISW hätten die ukrainischen Streitkräfte die erste Verteidigungslinie erst 13 Kilometer von der Grenze entfernt aufgebaut.
Experte sieht Beginn der russischen Sommeroffensive
Ausserdem mangelt es der Ukraine an Soldaten und Waffen. Obwohl die ersten Waffenlieferungen aus den USA das Land inzwischen erreicht haben, bleibt die Versorgung an der ukrainischen Front kritisch. «Die Ukrainer haben zwar genug Soldaten, um die vorderste Verteidigungslinie zu besetzen», sagte der Militärexperte Franz-Stefan Gady dem «Spiegel». «Anders als bei den Russen fehlt es aber an Einheiten, die dahinter herangezogen werden können.»
Darum seien russische Einbrüche in die Defensive schwerer aufzufangen. «Das ist ungünstig für die Ukraine», erklärte Gady. «Die russische Sommeroffensive, auf die alle gewartet haben, hat jetzt angefangen.»
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