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Berührendes Ritual
Wird ein Soldat zu Grabe getragen, knien am Strassen­rand Hunderte Ukrainer nieder

LVIV, UKRAINE - APRIL 23: Members of the local community kneel outside their homes as the funeral procession drives to the funeral service for fallen soldier Kobryn Oleg, aged 39, at the Church of Saint Jehoshaphat on April 23, 2022 in Dev'yatnyky, Ukraine. President Volodymyr Zelensky recently announced that up to 3,000 Ukrainian troops have been killed since the February 24 invasion of Ukraine. Thousands of civilians have also been killed, but estimates vary widely. (Photo by Leon Neal/Getty Images)
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Der wohl berühmteste Militärfriedhof der USA liegt in Arlington, unweit der Hauptstadt Washington. Er ist eine Welt für sich mit seinem Meer aus Kreuzen, Steinen und Grabplatten, seinen diversen Denk- und Mahnmälern, seinem Amphitheater, seinen Strassen und Wegweisern; neben Helden und unbekannten Soldaten liegen hier auch Präsidenten, Richter und der Boxweltmeister Joe Louis. Jeden Tag, heisst es auf der Website des Nationalfriedhofs in Virginia, würden bis zu 30 Beerdigungen vorgenommen – bis heute.

Ein «ukrainisches Arlington», wie es die Medien in Kiew nennen, soll nun sehr schnell und sehr dringend auch in der Ukraine entstehen. Wenn alles läuft wie geplant, könnten erste Teile womöglich schon am ukrainischen Nationalfeiertag für die Verteidiger der Ukraine, am 29. August, eingeweiht werden.

Nationalfriedhof für die geschundene Ukraine

Im letzten Dezember hatte das Parlament in Kiew einen entsprechenden Beschluss gefasst und 256 Hektaren Land ausserhalb der Stadt, nahe der Gemeinde Hatne, dafür vorgesehen. Das riesige Projekt lehnt sich an den grossen US-Nationalfriedhof an. Und es soll «jene auf ewig in Ehren halten, die für die Unabhängigkeit und Freiheit unserer Nation ihr Leben gegeben haben, wie Premier Denys Schmyhal bei der Vorstellung des Projekts erklärte.

256 Hektaren Land in der Nähe von Kiew: Hier wird der nationale Militärfriedhof der Ukraine entstehen.

Ein Nationalfriedhof für die geschundene Ukraine also – die allein im 20. und 21. Jahrhundert schon unerträglich viel Erfahrung mit Krieg, Gewalt und Tod machen musste: mit zwei Weltkriegen und der Schoah, dem Holodomor – der grossen, von Stalin über das Land gebrachten Hungersnot –, dem roten Terror, Deportationen und Säuberungen.

Nach der Unabhängigkeit, zwischen 2014 und 2022, vor der Vollinvasion der russischen Armee also, kamen beim Krieg im Osten des Landes nach Angaben der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) etwa 14’000 Menschen um. Was die offiziellen Opferzahlen seit dem grossen Angriffskrieg angeht, sprach Präsident Wolodimir Selenski im Februar von rund 31’000 Soldaten – allerdings dürfte die wahre Zahl sehr viel höher sein.

Wer durch die Ukraine fährt, sieht überall Friedhöfe, die wachsen und wuchern. Fahnen in Blau und Gelb flattern über Soldatengräbern, und Tausende weitere sind schon vorbereitet.

Der Krasnopilske-Friedhof am Stadtrand von Dnipro etwa hat sich allein in den vergangenen 50 Monaten über sein Kerngebiet hinaus auf angrenzende Felder ausgedehnt. Weitere Äcker wurden bereits markiert und abgesteckt. Bagger haben direkt neben den eng ausgelegten Grabreihen Hunderte neue Rechtecke ausgehoben. Als wäre für die Friedhofsverwaltung von Dnipro eindeutig, dass das grosse Sterben noch lange weitergeht.

Einiges am Plan ist umstritten

Auch das Architekturbüro Carat und dessen Chef Serhij Derbin, das vom Veteranenministerium den Auftrag für den grundlegenden Entwurf des nationalen Militärfriedhofs bekam, hat seinen Sitz in der zentralukrainischen Stadt Dnipro. Man erreicht Derbin allerdings eher in der Hauptstadt, wo er sein Projekt gerade mit viel Energie vorantreibt.

Sein Büro, das 2013 gegründet wurde, habe schon einige ähnliche Gedenkkonzepte von nationaler Relevanz betreut, sagt Derbin am Telefon. Eine riesige ukrainische Flagge als Mahnmal etwa, ein Denkmal für die Opfer der «Antiterroroperation», wie die Ukrainer ihren Kampf gegen die russischen Usurpatoren im Donbass nennen, oder auch einen «Weg der Tapferen» in Kiew, auf dem im Regierungsviertel Menschen geehrt werden sollen, welche die Ukraine im Kampf gegen Russland unterstützten.

Noch ist der Entwurf für das grosse Areal, das allein 120 Hektaren für Gräber, daneben ein Krematorium, eine Kirche, ein Museum und eine Veranstaltungshalle vorsieht, nicht fertiggestellt. Derbin, ein zurückhaltender Mann, betont, dass die Pläne nicht endgültig abgesegnet seien. Denn einiges rund um den Plan, der seit dem Beginn des grossen Krieges mit stetig steigenden Opferzahlen kursiert, ist umstritten.

Architekt Serhij Derbin: «Wir hätten so etwas schon seit den Neunzigerjahren gebraucht.»

Anfangs sollte der Nationalfriedhof in Kiew selbst liegen, Bürgermeister Vitali Klitschko hatte eine entsprechende Initiative ergriffen. Dann wurden unterschiedlichste, aber fragwürdige Standorte diskutiert: Erst wurde ein Ort nahe der Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust in Babyn Jar ins Visier genommen, dann einer bei der nationalen Gedenkstätte für die Opfer des Terrors der stalinistischen Staatssicherheit im Wald bei Bykiwnja, die Selenski Mitte Mai, am Tag der Opfer politischer Repression, besuchte.

Das ukrainische Parlament war für Bykiwnja, aber Selenski unterschrieb das entsprechende Gesetz nicht. Letztlich entschied man sich für das Dorf Hatne in der Region von Kiew an der Autobahn Richtung Südwesten, was auf den Widerstand vieler Angehöriger von Gefallenen, aber auch von Veteranenverbänden stiess. Es sei zu weit ausserhalb und schwer zu erreichen.

Architekt Derbin findet, ein Nationalfriedhof sei überfällig. «Wir hätten so etwas schon seit den Neunzigerjahren gebraucht – einen Ort, wo Familien, aber auch ausländische Delegationen unsere Helden ehren können.» Dabei gehe es nicht nur um die aktuelle russische Aggression: Ein Gedenkort für Kriegstote sei «von historischer Bedeutung für eine Nation und ihren Zusammenhalt».

Derbin ärgert sich über die «russische Propaganda», die das Projekt als Eingeständnis eines militärischen Scheiterns der Ukraine interpretiere, nach dem Motto: Ihr werdet noch viel mehr Gräber brauchen. Es gehe hier nicht um Einzelne, nicht um Zahlen, sondern um die Würde der Toten.

Kniender Ritter als Mahnmal

Und so gibt es nun einen Standort – aber noch kein zentrales Monument: Es geht um das Denkmal für den unbekannten Soldaten. Derbin bevorzugt einen Entwurf des Künstlers Vasyl Korchovy, der nun diskutiert wird. Er zeigt einen knienden Ritter in einer historischen Rüstung. Die Figur ist aus Stahl und Bronze, in seiner Hand hält er ein Schwert, das Schmerz und Ruhm symbolisieren soll.

In anderen Ländern werde, so Derbin, oft ein leerer Helm als Symbol für den unbekannten Soldaten gewählt. Und für westliche Augen sei ein kniender Ritter vielleicht kitschig, sagt Derbin. Aber für die Ukrainer sei er ikonografisch.

Dabei bezieht sich Derbin auf ein Bild, das sich täglich dutzendfach wiederholt im Land: Wenn ein Soldat, der bei der Verteidigung der Ukraine gegen Russland gefallen ist, durch seine Heimatstadt zur Beisetzung gefahren wird, steigen Hunderte Menschen aus ihren Autos aus oder von ihren Velos ab, verlassen ihre Häuser, unterbrechen ihre Arbeit. Sie treten an den Strassenrand und knien nieder. Es ist ihre Art, Respekt zu zeigen. Und zu trauern.