Kritische Infrastruktur in der UkraineRussland verstärkt seine Angriffe auf Kraftwerke
In Kiew fallen Ampeln aus, Geschäfte versuchen, mit Generatoren die Normalität aufrechtzuerhalten. Bereits jetzt steigt die Sorge vor dem Winter.
Am Fernseher merkte er es diesmal: «Jetzt ist der Strom wieder weg», schreibt Danylo* aus Kiew am Donnerstag in einer Whatsapp-Nachricht an diese Redaktion. Mal gehe der Strom einfach aus, mal das Licht, seit Tagen gehe das so. «Zuletzt zweimal am Tag für bis zu sechs Stunden», berichtet der 29-Jährige. Wann die Stromausfälle kommen, wisse er vorher nie. Er helfe sich jetzt mit Powerbanks, kleinen, mobilen Ladegeräten. Eine diene dazu, den Wi-Fi-Router laufen zu lassen, damit er das Internet weiter nutzen könne.
Die Ukraine kämpft derzeit mit den grössten Stromausfällen seit Beginn der Vollinvasion im Februar 2022. (Lesen Sie hier die aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Ticker) Der «Kyiv Independent» berichtet, dass in der Hauptstadt, in der das Leben zuletzt zumindest augenscheinlich seinen gewohnten Gang ging, die Metro ausfällt, Ampeln und Aufzüge nicht funktionieren.
Geschäfte helfen sich mit Generatoren, die überall im Stadtbild zu sehen und zu hören sind, andere sperren zu. In manchen Stadtteilen gibt es fast den ganzen Tag keinen Strom. Dazu heulen immer wieder Sirenen, die vor Luftangriffen warnen. Kiew ist und bleibt ein vorrangiges Ziel russischer Raketen.
Schwierig ist auch die Lage in Tscherkassy, einer Stadt in der Zentralukraine. Am Mittwoch gab es dort 24 Stunden lang keinen Strom, berichtet eine Ukrainerin, auch das Wasser sei abgestellt worden. Duschen oder Waschen ist also unmöglich, «und wer es sich leisten kann, kauft sich einen Generator», sagt die 29-Jährige. Die jüngsten Ausfälle der Strom- und Wasserversorgung seien die schlimmsten seit langem, und die psychische Belastung sei gross.
Kraftwerke konnten nicht ausreichend geschützt werden
Es ist nicht neu, dass Russland das ukrainische Stromnetz angreift und dadurch das Leben in Städten und Dörfern erheblich eingeschränkt und dieses mancherorts zeitweise ganz zum Erliegen kommt. Aber neu ist, dass die russische Armee ihre Angriffe noch mehr auf Kraftwerke fokussiert, um dort langfristigen Schaden anzurichten.
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Fünf Attacken auf Kraftwerke an einem Tag erlebte die Ukraine etwa am vergangenen Samstag. Die russische Armee griff mit Raketen und Drohnen an. Betroffen waren die Regionen Saporischschja, Dnipropetrowsk, Donezk, Kirowohrad und Iwano-Frankiwsk. Dass die Angreifer ihr Ziel erreichten, lag auch daran, dass es der Ukraine an Abwehrsystemen und Munition mangelt, weil westliche Lieferungen auf sich warten lassen.
Mehr als neun Gigawatt ihrer Kraftwerksleistung hat die Ukraine seit März gemäss EU-Angaben verloren. Zur Einordnung: Vor Russlands Grossangriff im Februar 2022 hatte die Ukraine laut «Financial Times» 55 Gigawatt Strom erzeugt, sie war eine der grössten Stromproduzentinnen Europas. Jetzt produziert das Land weniger als 20 Gigawatt.
Die Ukraine importiert Strom aus der EU und wird die Einfuhren nun weiter steigern müssen. «Die Situation ist sehr ernst», sagte der ukrainische Ministerpräsident Denis Schmihal am Dienstag. Energieminister Herman Haluschtschenko sprach von erheblichen Schäden.
Auffällig ist, dass Russland nun seltener dort angreift, wo Energie verteilt wird, an Verteilstationen, Umspannwerken, dafür aber vermehrt dort, wo Energie erzeugt wird, also in Kraftwerken für Wärme und Wasser. Das berichtet die Kyiv School of Economics. Für die Ukraine ist das problematisch, denn die Energienetze liessen sich in der Vergangenheit vergleichsweise schnell reparieren – bei den grossen Anlagen ist der Wiederaufbau aber deutlich teurer und dauert länger; er könnte sich über Jahre hinziehen.
Appell an Verbündete: «Bitte geben Sie uns Ihre alte Ausrüstung»
Ob die Kraftwerke also bis zum Winter wieder einsatzfähig sein werden, ist fraglich. Der Chef des ukrainischen Energieversorgers DTEK bat bereits Ende Mai auf X (vormals Twitter) Verbündete der Ukraine: «Bitte geben Sie uns Ihre alte Ausrüstung, die Sie nicht mehr benötigen. Durch den Zugang zu Ihren stillgelegten Kraftwerken können wir wichtige Ausrüstung beschaffen, um unsere Kraftwerke wieder zum Laufen zu bringen.»
Die «Financial Times» berichtet unter Berufung auf ukrainische Quellen, dass die Menschen im nächsten Winter täglich mit stundenlangen Stromausfällen rechnen müssten. Berechnungen der Kyiv School of Economics gehen von zwei bis vier Stunden pro Tag aus – sollten die Anlagen nicht repariert werden.
Diese Arbeiten finden unterdessen bei anhaltendem Beschuss statt. Die Ukraine versucht ausserdem, das Stromnetz durch den Bau kleinerer Erzeugeranlagen zu dezentralisieren, was Angriffen ihre Wucht nehmen würde. Auch will die Ukraine das Netz diversifizieren und mehr Solarzellen aufbauen. Die dafür notwendigen Investitionen sind in Kriegszeiten aber schwer zu stemmen.
Erzwungenes Energiesparen werde «in den kommenden Jahren Teil unseres täglichen Lebens sein», warnte Premier Schmihal in dieser Woche. Grosse Unternehmen seien davon genauso betroffen wie private Haushalte. Was im Sommer noch leichter hinnehmbar ist, könnte bei tiefen Temperaturen im Winter für die Menschen lebensbedrohlich werden.
*Name geändert.
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