Flüchtlingstragödie vor KalabrienMindestens 59 Migranten ertrinken bei Schiffbruch nahe Badestrand
Auf dem Flüchtlingsboot, das vor Kalabrien sank, sollen sich bis zu 250 Menschen befunden haben: 80 konnten gerettet werden, die meisten werden vermisst.
Vor der Küste von Steccato di Cutro, einem Ort in Kalabrien, ist ein Flüchtlingsboot gekentert. Die See war sehr bewegt, die Wellen waren hoch, wie das im Winter oft der Fall ist. Das Boot mit Migranten aus dem Iran, aus Afghanistan und Pakistan zerbarst offenbar an Felsen kurz vor dem Ziel. 80 Menschen konnten gerettet werden.
Unklar war zunächst, wie viele Flüchtlinge diesmal umgekommen sein könnten auf der gefährlichen Migrationsroute durch das Mittelmeer. Überlebende berichteten davon, dass sie zu Beginn der Reise 250 gewesen waren. Abgelegt hatten sie in der Türkei. Bis Sonntagmittag barg die italienische Küstenwache 59 Leichen, das Meer hatte sie an die Strände geschwemmt. Es waren viele Kinder dabei, auch ein Neugeborenes.
«Kalabrien ist in Trauer wegen dieser schrecklichen Tragödie», schrieb Roberto Occhiuto, der kalabrische Regionspräsident von Silvio Berlusconis rechtsbürgerlicher Partei Forza Italia, in einem Communiqué und fügte an: «Wo ist Europa?»
Zunahmen der Überfahrten nach Italien
Die Überfahrten nach Italien haben in jüngerer Vergangenheit wieder zugenommen – und dies trotz schwieriger Witterung. Am meisten Menschen kommen nach wie vor aus Libyen und Tunesien, was an den politischen Wirren in den nordafrikanischen Ländern liegt. Nach Angaben des italienischen Innenministeriums sind in diesem Jahr bis einschliesslich Donnerstag schon 13’067 Migranten auf dem Seeweg ins Land gekommen, weit mehr als doppelt so viele wie im gleichen Vorjahreszeitraum (5273).
85 bis 90 Prozent der Migranten, die es nach Italien schaffen, schaffen es an Bord ihrer eigenen Boote oder werden von Frachtern der italienischen Marine oder der italienischen Küstenwache aus Seenot gerettet und in Sicherheit gebracht. Der Rest, also etwa 10 bis 15 Prozent, werden von Nichtregierungsorganisationen transportiert. Im Jahr 2022 waren das 11,2 Prozent.
Dennoch konzentriert sich die italienische Rechtsregierung in ihrem Kampf gegen das, was sie «illegale Einwanderung» nennt, fast ausschliesslich auf diese NGOs. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von den postfaschistischen Fratelli d’Italia sagte erst neulich wieder: «Das ist mehr ein Fährdienst als ein Rettungsdienst.» Früher war der Begriff der angeblichen «Taxis der Meere» beliebt. Der Sinn aber ist derselbe: Italiens Rechte wirft den NGOs ohne jedes Indiz vor, sie wären Komplizen nordafrikanischer Schlepperbanden – und behindern deshalb deren Arbeit mit offener Absicht.
Das neue Gesetzesdekret über Italiens Umgang mit den Seenotrettern, das erst vor kurzem definitiv vom römischen Parlament genehmigt worden ist, verbietet es den Organisationen unter anderem, mehr als eine Rettungsoperation pro Mission durchzuführen. Wenn sie also mal Menschen gerettet haben, müssen sie in Rom nach einem sicheren Hafen fragen und diesen umgehend ansteuern. Auf dem Weg dorthin dürfen sie keine neuen Migranten aufnehmen, auch wenn sie welche in Seenot antreffen.
«Es ist nicht akzeptabel, dass wir für das Retten von Menschenleben bestraft werden.»
Verstossen sie gegen diese Norm, werden sie mit Geldbussen von 10’000 bis 50’000 Euro bestraft, und ihr Schiff wird für einige Zeit festgesetzt. Das passierte nun zum ersten Mal der Geo Barents von den Ärzten ohne Grenzen. Die hatte vor Libyen zunächst 69 Migranten in Seenot gerettet und auf ihrem Weg nach La Spezia weitere 168 an Bord genommen. Die Crew wurde mit 10’000 Euro gebüsst, die Geo Barents für 20 Tage im sizilianischen Hafen von Augusta festgesetzt. «Es ist nicht akzeptabel, dass wir für das Retten von Menschenleben bestraft werden», richteten Ärzte ohne Grenzen aus.
Über 25’000 Ertrunkene im Mittelmeer seit 2014
Auch die Zuweisung von La Spezia im nördlichen Ligurien als sicherer Hafen gehört zur neuen Strategie der italienischen Regierung und ihres Innenministers Matteo Piantedosi in ihrem Messen mit den NGOs. Damit deren Schiffe möglichst oft nicht vor Libyen kreuzen können, werden sie statt zu sizilianischen, apulischen oder kalabrischen Häfen in den Norden geschickt: nach La Spezia oder Carrara an der tyrrhenischen Küste zum Beispiel oder nach Ancona und Ravenna im oberen Teil der adriatischen Küste. So sind sie jeweils tagelang unterwegs, um die Migranten in Sicherheit zu bringen – auf unnötigen Umwegen.
Jedes Jahr versuchen Tausende Migranten auf oft wenig seetauglichen Booten aus Nordafrika nach Italien und damit nach Europa zu gelangen. Nach einem Bericht der Internationalen Organisation für Migration (IOM) starben seit Beginn der Erfassungen im Jahr 2014 mehr als 25’000 Menschen beim Versuch, auf der Mittelmeerroute nach Europa zu kommen. Bei einer der schwersten Flüchtlingskatastrophen kamen im April 2015 vor der libyschen Küste zwischen 800 und 900 Menschen um.
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