Kommunalwahlen in der TürkeiErdogan will Istanbul zurückerobern
Ende März sind in der Türkei Kommunalwahlen. Präsident Erdogan will der Opposition das wichtige Rathaus von Istanbul abnehmen. Nun steht fest, wer für ihn in der Metropole ins Rennen geht.
Am 29. Mai vergangenen Jahres weinte in der Istanbuler Strassenbahn eine junge Frau, als Anhänger des Präsidenten einstiegen. Die Anhänger hatten Flaggen dabei, sie waren in Feierlaune, es war der Tag nach der Stichwahl um die türkische Präsidentschaft. Recep Tayyip Erdogan hatte gewonnen. Die Frau war wie Millionen so fassungslos und aufgelöst, dass jemand sein Handy nahm und ihr Weinen filmte. Später ging das Video viral. Monatelang hatte das halbe Land sich zu hoffen getraut, die Opposition feierte Partys, die Leute tanzten. Jetzt oder nie. Also nie?
In knapp drei Monaten, am 31. März, sind schon wieder Wahlen in der Türkei. Kommunalwahlen diesmal, was wenig bedeutsam klingt. Für das Land aber dürften sie wegweisend sein. Schon damals im Mai, in der Nacht seines Sieges, kam Erdogan auf die Kommunalwahlen zu sprechen. Als Nächstes, rief er der Menge zu, gehe es um Istanbul. Er sei auf seinem «Marsch erst bis zur Hälfte» gekommen.
Für Erdogan war es eine Kränkung
Das Rathaus der Metropole hatte Erdogans Partei 2019 an die Opposition verloren. An Ekrem Imamoglu, den damals kaum jemand kannte, einen eher konservativen Mann mit Wurzeln am Schwarzen Meer. Den ersten Wahlsieg Imamoglus liess Erdogan annullieren, einer seiner offensten Angriffe auf die türkische Demokratie. Bei der wiederholten Wahl gewann Imamoglu mit grossem Abstand.
Für Erdogan war es eine Kränkung. Istanbul ist seine Heimatstadt, er selbst war in den Neunzigerjahren hier Oberbürgermeister. Der Präsident hasst es, seine Stadt in den Händen seiner Gegner zu sehen. Auf die grösste Stadt Europas konzentriert sich fast ein Drittel der türkischen Wirtschaftsleistung. Das Rathaus verwaltet ein Milliardenbudget, von dem Grossaufträge der Bauindustrie abhängen.
Mehr Technokrat als Charismatiker
Vor allem nahm Imamoglus Sieg Erdogan damals die Aura des Unbesiegbaren. Diesen Makel will er loswerden. Mit einem Kandidaten fürs Amt des Oberbürgermeisters namens Murat Kurum, wie Erdogan am Sonntag verkündete. Der ist erst 47 Jahre alt und war bis vor kurzem Minister für Umwelt, Stadtplanung und Klimawandel. Ein moderater Typ, mehr Technokrat als Charismatiker, ein Statthalter Erdogans. Leicht wird er es bei der Wahl gegen Imamoglu nicht haben.
Der besitzt politisches Kapital, das weiss auch Erdogan. Der Oberbürgermeister wies kürzlich darauf hin, dass er noch nie eine Wahl verloren habe. In der Opposition ist er einer der wenigen Siegertypen. Im Herbst stellte sich Imamoglu gegen seinen eigenen Förderer, den bisherigen CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu. Die Partei übte sich in interner Demokratie und wählte Kilicdaroglu ab, der sich trotz der Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen ans Amt geklammert hatte. Der neue Chef, Özgür Özel, gewann vor allem dank Imamoglus Unterstützung. Seither ist Imamoglu der heimliche Oppositionsführer.
Derzeit läuft gegen ihn ein weiteres Verfahren wegen angeblicher Vetternwirtschaft, angestrengt von Erdogans Innenministerium. Schon 2022 wurde Imamoglu in einem Schauprozess zu Politikverbot und einer Haftstrafe verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, wohl deswegen nicht, weil Erdogan um die Stimmung im Land weiss. Der Präsident geht selten einen Schritt zu weit. Würde er Imamoglu absetzen lassen, müsste er Massendemonstrationen auf den Strassen fürchten.
Erdogan braucht die Stimmen der Kurden
Zwölf Prozentpunkte lag Imamoglu in Umfragen vorn, als sein Herausforderer noch nicht feststand. Wenngleich sich die Türkinnen und Türken angewöhnt haben, den Umfragen zu misstrauen. Doch selbst bei den Präsidentschaftswahlen, als Imamoglu nicht auf dem Wahlzettel stand, gewann die Opposition in Istanbul – wie in allen anderen grossen Städten auch.
Erdogan weiss, dass er für Wahlsiege in den Städten die Stimmen der Kurden braucht, deshalb zeigt er sich flexibel. Früher hatte Erdogan immer auf kurdische Wähler gesetzt, erst später wandte er sich nach rechts und koalierte mit der ultrarechten MHP. Jetzt sendet der Präsident wieder andere Signale: Sein Innenminister verkündete, er wolle die «Samstagsmütter» nicht mehr kriminalisieren – das sind Kurdinnen, deren Kinder in Gefängnissen verschwanden, und deren samstägliche Demos seit Jahren verboten sind.
Erdogan wird ausserdem mit Freude beobachtet haben, wie die Opposition zerfallen ist. Am 31. März will die kurdisch dominierte Hedep eigene Kandidaten aufstellen, ebenso die rechte IYI-Partei. Anders als bei nationalen Wahlen reichen in den Kommunen einfache Mehrheiten, es gibt keine Stichwahlen. Mit einer zersplitterten Opposition wird es Ekrem Imamoglu in diesem System schwerer haben.
Ein türkischer Journalist sagte vor einer Weile, die Kommunalwahlen, besonders die in Istanbul, seien für Erdogan fast so wichtig wie die Präsidentschaftswahlen. Weil sie zeigen werden, welche Richtung das Land nimmt. Ob sich die Türkei weiter zu einem Erdogan-Staat entwickelt – oder ob noch Orte bleiben wie das Istanbuler Rathaus, die sich der Macht des Präsidenten entziehen.
Damals, 2019, als er gewann, rief Imamoglu auf der Bühne: «Die Hoffnung ist hier!» Und deutete auf sich. Das gilt noch immer: Er persönlich ist die Hoffnung der türkischen Opposition, vielleicht die einzige. Von Imamoglu hängt ab, ob im Land mal wieder eine Hoffnung keimt wie im vergangenen Frühling. Recep Tayyip Erdogan hat nun zwar einen Kandidaten aufgestellt. Er wird im März aber kämpfen, als stünde er selbst zur Wahl.
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