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Türkisches Skandalurteil
Mit einem Kandidaten in Haft lässt sich keine Wahl gewinnen

Mit Politikverbot belegt: Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu.

Das Gerichtsurteil gegen Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu empört die türkische Opposition. Zugleich gefährdet der Richterspruch vor den anstehenden Wahlen die Wahlkampfstrategie der Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Ein Istanbuler Gericht hat Imamoglu am Mittwoch zu einer Haftstrafe verurteilt und ihm ein Politikverbot erteilt. Vertreter der oppositionellen «Sechserallianz» sprachen von einer krassen Manipulation des Rechtsstaats. Imamoglu selbst, der der stärksten Oppositionspartei, der sozialdemokratischen CHP angehört und ein möglicher Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen im Juni ist, nannte das Urteil vom Mittwoch «ein schwerwiegendes Unrecht». Er fügte hinzu: «Dies ist der Beweis, dass es keine Gerechtigkeit in der heutigen Türkei gibt.»

CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu nannte den Richterspruch ebenfalls einen «schweren Verstoss gegen das Recht und die Gerechtigkeit». Andere Oppositionsvertreter äusserten sich ähnlich. Die nationalistische Politikerin Meral Aksener reiste vor dem Urteilsspruch aus Ankara sogar eigens zu einer Grossdemonstration in Istanbul an, um ihre Solidarität mit Imamoglu zu demonstrieren. Abdullah Gül, ein früherer Staatspräsident und ehemaliger Weggefährte Erdogans, twitterte: «Die Gerichtsentscheidung ist nicht nur eine grosse Ungerechtigkeit gegenüber Imamoglu, sondern auch gegen die gesamte Türkei.»

Richter in die Provinz versetzt

Das Offensichtliche zu kritisieren, hilft der Opposition ein knappes halbes Jahr vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen allerdings noch nicht weiter. Das Gericht hat Imamoglu zu zwei Jahren, sieben Monaten und 15 Tagen Haft verurteilt, wegen einer angeblichen Beleidigung der Hohen Wahlkommission im Jahr 2019. Wenige Tage vor der Urteilsverkündung war der Richter ausgetauscht worden, was die Opposition in ihrem Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens noch bestärkte: Der ursprüngliche Richter habe sich dem Druck widersetzt, ein hartes Urteil zu fällen, und sei deswegen in die Provinz versetzt worden.

Zwar hat der Istanbuler Bürgermeister bereits Berufung gegen seine Haftstrafe wie auch gegen das langjährige Politikverbot eingelegt. Aber eine Kandidatur Imamoglus bei den Präsidentschaftswahlen ist nun nach Ansicht von Juristen zu einem schwer kalkulierbaren Risiko für die Gegner von Staatspräsident Erdogan geworden. Mit einem Kandidaten in Haft lässt sich keine Wahl gewinnen.

«Erdogan wird alles tun, um die Wahlen zu gewinnen», sagt der Istanbuler Rechtsanwalt Turgut Kazan.

Offiziell ist der 18. Juni der letztmögliche Wahltag für das Präsidentenamt und das Parlament. Für die Bewerbung um das höchste Staatsamt gibt es eine Frist, die die Oberste Wahlkommission verhängt. Da die Wahl aber auch früher als am 18. Juni abgehalten werden kann, etwa im April oder Mai, gibt es auch noch keine Frist. Und den Wahltermin festzulegen, liegt de facto in Erdogans Hand.

«Erdogan wird alles tun, um die Wahlen zu gewinnen», sagt der Istanbuler Rechtsanwalt Turgut Kazan im Gespräch. Falls Imamoglu kandidiere und die letzte gerichtliche Instanz das Urteil erst danach bestätige, könnte die Opposition wegen der unklaren Bewerbungsfrist eventuell keinen neuen Kandidaten mehr benennen. Dann stünde sie möglicherweise ohne überzeugenden Kandidaten gegen den erneut antretenden Amtsinhaber da, so der Jurist.

Da es in diesem Wahlkampf um den längst nicht mehr gesicherten Machterhalt für den seit fast 20 Jahren regierenden Erdogan geht, muss die Opposition mit einer Instrumentalisierung des Wahlrechts rechnen. Das Oppositionsbündnis aus sechs Parteien hat noch keinen gemeinsamen Kandidaten benannt. Dies galt bisher als raffinierter Schachzug, da der erfahrene Wahlkämpfer Erdogan bisher keinen Namen hat, gegen den er sich wenden kann.

Hat Angst vor einer Wahlniederlage: Recep Tayyip Erdogan.

CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu scheint sich selbst für den besten Kandidaten zu halten, doch das sehen einige in der Sechserallianz anders. Kilicdaroglu hat keine Regierungserfahrung und gehört der islamischen Minderheit der Aleviten an, die viele sunnitische Muslime als Häretiker betrachten. Das Bündnis braucht zudem einen Kandidaten, der die kurdische Minderheit überzeugt. Die Kurden mit ihrer Partei HDP gelten bei dieser Wahl als Königsmacher; die HDP ist aber nicht Teil der Sechserallianz, sondern unterstützt diese nur.

Imamoglu hatte 2019 die Wahl um das Bürgermeisteramt in Istanbul vor allem dank der Unterstützung der Kurden gewonnen, wenn auch nur knapp. Erdogans Regierungspartei AKP liess die Wahl annullieren und wiederholen. Doch Imamoglu gewann erneut. Dies wurde als Niederlage Erdogans gewertet.

Fragwürdige Auslegung eines Satzes

Aus dieser Zeit stammen die Beleidigungsvorwürfe gegen Imamoglu; er hatte nach seinem Sieg die Annullierung der Wahl als Werk von Idioten bezeichnet – und eigenen Angaben zufolge damit Regierungsvertreter gemeint. Die Justiz hingegen behauptete, er habe die Mitglieder der Wahlkommission gemeint, also Staatsvertreter beleidigt. Diese fragwürdige Auslegung eines Satzes Imamoglus war Grundlage für den Richterspruch, der die Opposition nun den Sieg kosten könnte.

Möglicherweise stärkt das Urteil Erdogans Gegner aber auch: Imamoglu könnte zum Volkshelden werden, wenn das Urteil bestätigt wird und er in Haft kommt. So ist es zumindest dem amtierenden Staatschef einst ergangen: 1998, damals war er der Bürgermeister in Istanbul, wurde Recep Tayyip Erdogan wegen «Beleidigung» verurteilt. Er hatte aus einem Gedicht zitiert, was ihm als islamistische Propaganda ausgelegt wurde. Vier Monate Haft sass er im Jahr danach ab. Das machte ihn berühmt, 2002 errang er mit seiner AKP einen überragenden Wahlsieg. Seitdem regiert er, zuerst als Premier und seit 2016 als Präsident.