Wahlkampf in der TürkeiEin Terrorvorwurf soll Erdogans Widersacher stoppen
Die Behörden ermitteln gegen Istanbuls Bürgermeister Imamoglu, weil dessen Mitarbeiter angeblich mit Terrororganisationen sympathisieren. Immer deutlicher zeigt sich, dass die türkische Justiz politisiert ist.
Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu droht ein weiteres Amtsenthebungsverfahren. Die türkische Zentralregierung in Ankara behauptet nach einer einjährigen Untersuchung, unter den fast 44’000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtverwaltung fänden sich 1668 Personen, die Verbindungen zu Terrororganisationen hätten. Imamoglu trage als Bürgermeister dafür Verantwortung. Der populäre Politiker gilt als möglicher Kandidat für das Amt des Präsidenten.
Ein knappes halbes Jahr vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen könnte er nun seines Postens enthoben werden. Auf diese Weise bekäme die Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan im Wahlkampf Zugriff auf das Budget, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die anderen Ressourcen der Metropole: Istanbul mit seinen mindestens 16 Millionen Bewohnern gilt als wahlentscheidend.
Erdogan instrumentalisiert die Justiz
So werden die Versuche der Erdogan-Regierung immer offensichtlicher, die türkische Justiz für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren und Gerichtsentscheidungen zur Schwächung der Opposition zu nutzen. Imamoglu war jüngst unter an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen zu zweieinhalb Jahren Haft und einem Politikverbot verurteilt worden. Das Verfahren geht zwar in die Berufung, aber eine Aufhebung des Urteils ist alles andere als sicher.
Imamoglu, einer der bekanntesten Oppositionspolitiker, hat die neuen Vorwürfe gegen sich als unsinnig zurückgewiesen und unter Bezug auf die möglichen Verbindungen einzelner Mitarbeiter der Istanbuler Riesenbehörde gefragt: «Bin ich ein Geheimdienst? Bin ich die Justiz?» Aber schon bei dem ersten Gerichtsurteil gegen ihn hatte das Gericht wenig Wert darauf gelegt, dass die Vorwürfe die türkische Öffentlichkeit überzeugen.
Das Innenministerium behauptet nun, dass 1668 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Istanbuler Stadtverwaltung gleich mit verschiedenen Terrororganisationen sympathisierten. Darunter ist die militante kurdische PKK, die auch von den USA und der EU als Terrorgruppe gelistet wird. Ebenso findet sich das Netzwerk der Gülen-Islamisten. Die Organisation wird von Ankara für den gescheiterten Militärputsch von 2016 verantwortlich gemacht. Sie gilt in den meisten Staaten allerdings nicht als Terrorgruppe. Der Chef des Gülen-Netzwerks, Fethullah Gülen, lebt seit Jahren in den USA. Zudem werden vom Innenministerium einige linke Splittergruppen genannt. Ausserdem führt Ankara an, fast 500 Mitarbeiter der Stadtverwaltung seien ohne Sicherheitsüberprüfung eingestellt worden.
Erdogan fürchtet um seine Macht
Die Vorwürfe von Innenminister Süleyman Soylu passen ins politische Bild, das die Türkei vor den am 18. Juni anstehenden Wahlen abgibt. Die Regierung muss um ihre Macht fürchten. Sowohl Erdogans eigene Wiederwahl als Präsident wie auch eine für eine Regierungsarbeit nötige Mindestzahl an Parlamentssitzen für die AKP scheinen inzwischen alles andere als gesichert zu sein.
Jüngste Umfragen zeigen, dass die Wählerschaft sich tendenziell nicht nur von Erdogans konservativ-islamischer Regierungspartei AKP abwendet. Auch der Präsident selbst verliert wegen des stetigen Verfalls der Landeswährung Lira und einer Inflation von inzwischen fast 100 Prozent an Zustimmung.
Breites Oppositionsbündnis
Die Opposition, die gegen den Amtsinhaber antritt, hat mit dem «Sechser-Tisch» aus sehr unterschiedlichen Parteien ein säkular orientiertes Bündnis geschmiedet. Es verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen Regierungssystem. Die grösste Schwäche der Opposition ist, dass sie sich bisher nicht auf einen gemeinsamen Spitzenkandidaten für das Präsidentenamt geeinigt hat.
Der Istanbuler Bürgermeister Imamoglu wäre ein erfolgversprechender Bewerber. Aber mit der juristischen Doppeloffensive und der drohenden Haftstrafe samt Politikverbot kommt er kaum noch infrage. Die Position des Spitzenmannes dürfte Kemal Kilicdaroglu einnehmen, der für die Wählerschaft weit weniger attraktive Chef der sozialdemokratischen Partei CHP.
Fehler gefunden?Jetzt melden.