Kommentare von «New York Times» & Co.Trumps Telefonat – US-Medien zürnen dem Präsidenten
Donald Trump wollte in Georgia «Stimmen finden» und wurde dabei aufgenommen. Kommentatoren fordern seine Verurteilung – haben aber auch andere Ideen.
Das einstündige Telefon von US-Präsident Donald Trump mit Georgias Staatssekretär Brad Raffensperger hat in den USA zu einer Welle von Empörung geführt. Im von der «Washington Post» veröffentlichten Mitschnitt des Gesprächs ist zu hören, wie Trump eine nachträgliche Änderung des Wahlergebnisses fordert: Raffensperger solle genügend Stimmen für ihn «finden» und das Ergebnis «nachberechnen», ansonsten mache er sich womöglich einer Straftat schuldig, wenn er nicht gegen Wahlbetrug vorgehe. «Ich will nur 11’780 Stimmen finden ... weil wir den Bundesstaat gewonnen haben», sagte er dem Mitschnitt zufolge.
Raffensperger widerstand Trumps Druckversuchen, doch für viele US-Kommentatoren hat sich Trump damit selber in Wahlbetrug versucht. Demokratische Politiker fordern eine FBI-Untersuchung, und auch ein erneutes Impeachment-Verfahren steht wieder im Raum. Die grossen US-Medien fordern dies zum Teil auch, sie haben aber auch andere Ideen, um Trump nach dieser Enthüllung nicht ungeschoren davonkommen zu lassen.
«New York Times»: Verurteilung
Jurist Neal Katyal und Autor Sam Koppelman sind der Meinung, dass der US-Kongress Donald Trump nun nochmals impeachen soll. Das Verfahren würde zwar viel länger gehen als die 15 Tage, die Trump noch im Amt verbleiben. Der entsprechende Artikel in der US-Verfassung sieht für ein Impeachment aber explizit nicht nur die Amtsenthebung vor, sondern auch eine Disqualifikation von künftigen Ämtern. Trump könnte derzeit 2024 nochmals zur Präsidentschaftswahl antreten und müsse deshalb impeacht werden, fordern Katyal und Koppelman. Zudem würde es bei dem Verfahren auch darum gehen, dass der Kongress Zeichen setze. Einerseits soll gezeigt werden, dass Trump für seine Einflussnahme auf die Wahlen und den versuchten Coup haftbar gemacht werden könne. Andererseits, dass ein Präsident auch nach einer verlorenen Wahl bis zum Ende seiner Amtszeit noch zur Verantwortung gezogen werden könne. Am wichtigsten sei aber, dass Trump, der gemäss Verfassung für eine weitere Amtszeit von vier Jahren kandidieren könnte, nie mehr Präsident der Vereinigten Staaten werde. Dass Katyal und Koppelman die Impeachment-Lösung vorschlagen, ist allerdings nicht ganz überraschend, sie sind die beiden Autoren des Anfang 2020 erschienenen Buches «Impeach: The Case Against Donald Trump».
«Washington Post»: Untersuchung
Für die ausgebildete Anwältin und Journalistin Ruth Marcus ist ein juristisches Verfahren die falsche Lösung. Mit Verweis auf die Gesetze schreibt die «Washington Post»-Kolumnistin, dass Trumps Telefonat zwar zutiefst undemokratisch war, die Beweislage gegen ihn aber nicht genügen könnte. Dazu müsste der US-Präsident Georgias Staatssekretär wissentlich und vorsätzlich zum Wahlbetrug angestiftet haben. Obwohl das für viele Demokraten wohl offensichtlich der Fall sei, würde Trumps Verteidigung aber sämtliche Register ziehen und diesen Vorsatz bestreiten, schreibt Marcus. So habe der US-Präsident zwar davon gesprochen, Tausende Stimmen «zu finden», gleichzeitig redete er aber auch immer wieder davon, dass er ja mit grossem Vorsprung gewonnen habe. Trump wolle demzufolge nicht betrügen, sondern einfach zum korrekten Ergebnis gelangen, wäre die Argumentation. Mithilfe weiterer Beweise könnte Trump vielleicht verurteilt werden, schreibt Marcus, das sei aber unwahrscheinlich. Ein Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit wäre zudem nicht befriedigend und würde das Land noch mehr spalten. Sie fordert deshalb kein rechtliches Verfahren gegen Trump, aber ein politisches. Ein Senats-Komitee könnte beispielsweise die Vorgänge analog den Watergate-Ermittlungen untersuchen, mit dem Ziel, Trumps undemokratische und wahrscheinlich gesetzeswidrige Machenschaften rund um die Wahlen komplett aufzudecken und der Öffentlichkeit zu präsentieren.
«New Yorker»: Wahldrama beenden
Im Magazin «New Yorker» schreibt Rechtsprofessorin Jeannie Suk Gersen von der Harvard-Universität ebenfalls, dass sich eine Strafverfolgung wohl nicht lohne. Zwar sei der Fall eigentlich klar, der Präsident habe «wissentlich und vorsätzlich» versucht, den Wählerwillen in Georgia zu untergraben. Die Aufforderung, Stimmen für ihn zu finden, könne eigentlich nicht anders interpretiert werden, und in den USA seien schon viele Personen mit weniger Beweisen verurteilt worden. Am 20. Januar 2021 könnte es für Trump deshalb ungemütlich werden, eigentlich. Die Harvard-Professorin rät Joe Biden aber, auf einen jahrelangen Rechtsstreit um Trumps Telefonat zu verzichten. Einerseits, weil dies Trump und sein Wahldrama während der gesamten Zeit in der Öffentlichkeit halten würde. Andererseits, weil Trumps Wahn ihm eben doch eine Türe für einen Freispruch offenlässt. Ob der Präsident das Wahlresultat bewusst und betrügerisch ändern wollte, um eine verlorene Wahl zu kippen, sei demnach gar nicht so klar. Da auch sein Stabschef und weitere Personen beim Gespräch anwesend waren, sei eher davon auszugehen, dass Trump sich bereits so weit von der Realität entfernt habe, dass er wirklich davon überzeugt sei, dass er die Wahl gewonnen habe.
CNN: Trumps Rache
Für «White House»-Reporter Stephen Collinson ist klar, dass Trumps einziges verbleibendes Ziel ist, das Vertrauen in die Demokratie in den USA so weit wie möglich zu beschädigen. Das Motiv: Rache. Gleichzeitig seien seine Fantasien aber auch albtraumhaft, bleibe er doch weitere 15 Tage Oberbefehlshaber des mächtigsten Landes. Die Logik des Präsidenten sei bekannt, schreibt der CNN-Mann: Wenn Trump verliert, dann müssen die Demokraten betrogen haben, das sagte er schon vor den Wahlen, und das sagte er selbst 2016, als er Präsident wurde, aber Hillary Clinton insgesamt mehr Stimmen erhielt. Für Collinson aber noch bedenklicher als das mittlerweile bekannte Gehabe des Präsidenten seien aber die Senatoren, die am Mittwoch bei der formellen Bekanntgabe der Elektorenstimmen für Unruhe sorgen wollen. Sie würden ihre Loyalität zu Trump über die Demokratie und die US-Verfassung stellen, schreibt Collinson. Die geplante «Show» werde den neuen Präsidenten Joe Biden schädigen, aber auch zur weiteren Spaltung des Landes beitragen.
«Time»: High Fives in Peking und Moskau
Im «Time»-Magazine schreibt James Stavridis, ein ehemaliger Navy-Admiral und Nato-Kommandant, über den «unglaublichen» Brief von zehn ehemaligen Verteidigungsministern, die darin klargemacht haben, dass die US-Wahlen vorbei seien und Joe Biden der nächste Präsident sei. Die aktuelle Enthüllung von Trumps Telefonat habe ihnen wohl einen Schauer über den Rücken gejagt. Und das sollte es, schreibt Stavridis, denn «nichts zu unseren Lebzeiten ist ein direkterer Verstoss gegen den Eid, den jeder dieser Kabinettssekretäre geschworen hat: die Verfassung der Vereinigten Staaten zu unterstützen und zu verteidigen». Die ehemaligen Verteidigungsminister, die er selber kontaktiert habe, seien ebenso traurig wie wütend über Trump. Denn das ganze Chaos führe nicht nur zu High Fives in Peking, Moskau oder Teheran. Auch die verbündeten Nationen seien zunehmend distanziert, schreibt der ehemalige Nato-Kommandant in Europa. Es sei deshalb wichtig, auf die Stimmen und die Weisheit der zehn Männer zu hören, um durch die stürmischen Gewässer durchsegeln und sie hinter sich lassen zu können.
«The Atlantic»: Schlimmer als Verrat
Autor Tom Nicholls schreibt in der Zeitschrift «The Atlantic», der ganze Putschversuch von Trump und seinen loyalen Republikanern sei «schlimmer als Verrat». Er bezieht sich auch auf die für Mittwoch geplanten Vorgänge im US-Kongress und schreibt: «Dies ist Volksaufhetzung, schlicht und einfach. Keine Menge an Rationalisierung kann die Tatsache ändern, dass die Mehrheit der Republikanischen Partei den Umsturz einer amerikanischen Wahl und die weitere Herrschaft eines soziopathischen Autokraten befürwortet.» Trump erkenne in seinem Putschverhalten keine Schande, für ihn sei die einzige denkbare Schande, eine Niederlage einzugestehen. «Und genau wie sie es in den letzten vier Jahren getan haben, versuchten die gewählten Republikaner sich selbst davon zu überzeugen, dass, wenn sie diese Schandtat unterstützten, es das letzte Mal sein würde, dass von ihnen verlangt würde, ihre Würde aufzugeben; dass dieser Verrat an der Verfassung der letzte Verrat sein würde, der von ihnen verlangt wird.»
In den Abgrund mit Donald Trump
Der jüngste Druckversuch des Präsidenten ist ebenso korrupt wie bizarr, schreibt unser Washington-Korrespondent Alan Cassidy. Befremdlich ist, wie viele Republikaner ihm in seinem Wahn immer noch folgen. Lesen Sie hier unsere Analyse zu Trumps Georgia-Telefonat.
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