Fachmann über Reizthema Transgender«Was sich trans Menschen auf der Strasse anhören müssen – das ist heftig»
Der Psychologe Patrick Gross erläutert, warum Diskussionen um trans Personen so schnell emotional werden. Und was es bedeutet, wenn jemand eine Geschlechtsangleichung rückgängig macht.
- Patrick Gross leitet seit 2020 die Sprechstunde für Geschlechterfragen in der Psychiatrie Baselland.
- Er betont, dass Detransition nicht zwangsläufig Reue bedeutet.
- Externe Motive für Detransition umfassen häufig Beziehungen oder Diskriminierung.
- Transition wird medial oft stark auf medizinische Aspekte fokussiert.
Herr Gross, die bekannte trans Frau Nadia Brönimann bereut offensichtlich ihre Transition vom Mann zur Frau. In einem Interview mit dieser Publikation hat sie den Vorwurf erhoben, die Ärzte hätten damals ihrem Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung viel zu schnell nachgegeben. Hat Sie das überrascht?
Ich kenne die Geschichte von Nadia Brönimann nicht und möchte auch nicht auf die Medienberichte eingehen. Wichtig scheint mir aber, dass Nadia Brönimann Themen wie die Detransition, das Bedauern, aber auch Fragen rund ums Älterwerden von trans Personen zur Sprache bringt. In Bezug auf das Thema der Detransition ist es mir wichtig, zu sagen, dass eine Detransition nicht mit Bereuen gleichgesetzt werden darf.
Sondern?
Es gibt zwei Motive für eine Detransition. Es kommt vor, dass eine trans Person irgendwann merkt, nicht mehr trans zu sein, weil sich ihre geschlechtliche Verortung im Laufe der Zeit geändert hat. In solchen Fällen spricht man von «Core Detransition». Der überwiegende Teil der Personen, die eine Detransition ins Auge fassen, haben jedoch andere – externe – Motive. Zum Beispiel eine Liebesbeziehung mit einer Partnerin oder einem Partner, der oder die sagt: «Das stimmt für mich nicht, damit kann ich nicht umgehen.» Das Abwägen zwischen Transition und Beziehung kann dazu führen, dass jemand eine bereits begonnene Transition abbricht oder rückgängig macht. Ein weiterer häufiger Grund sind Diskriminierungserfahrungen in der Familie, im Freundeskreis oder bei der Arbeit.
Was bedeuten die Begriffe Transition und Detransition eigentlich genau?
Transition meint im Kern den Prozess, den trans Personen gehen können, um ihr Geschlecht so zu leben, wie es für sie stimmig ist. Dieser Prozess hat soziale Aspekte, wie das Coming-out, die Information von Familien und Angehörigen, das Tragen bestimmter Kleider und Ähnliches. Dann gibt es eine juristische Dimension, etwa die Änderung des Vornamens oder des Personenstandes. Und die medizinische, etwa eine Hormonbehandlung oder allenfalls eine geschlechtsangleichende Operation. Indem sich die mediale Aufmerksamkeit fast ausschliesslich auf das Medizinische richtet, wird sie diesem langen, vielschichtigen Prozess oft nicht gerecht. Und dies wiederum führt dazu, dass der Vorwurf, wonach die medizinischen Fachpersonen nicht genau hingeschaut haben, in meinen Augen zu leichtfertig erhoben wird.
Und was bedeutet Detransition?
Eine Detransition funktioniert im Prinzip genau gleich. Geht jemand den Weg zurück, um es mal so zu nennen, kann auch dies auf der sozialen, der juristischen oder auf der medizinischen Ebene geschehen.
Wie häufig kommt es vor, dass jemand eine Transition durch eine Detransition abbricht oder rückgängig macht?
Die Zahlen dazu sind mehrdeutig und umstritten. Sie bewegen sich zwischen Werten von unter 1 Prozent für jene, die den Schritt bereuen, bis zu 20 Prozent für jene, die eine Transition abbrechen.
«Unsere ganze Gesellschaft befindet sich in einer Transition.»
Die Diskussion um trans Personen, um ihre Forderungen und Rechte, wird schnell emotional. Wie erklären Sie sich das?
Ich glaube, dass dabei auf individueller Ebene Ängste eine wichtige Rolle spielen, gegenüber dem Anderen, dem Fremden, gegenüber einem Phänomen, das man nicht einordnen kann und das dadurch auch die eigene geschlechtliche Identität bedroht. Eine Möglichkeit, mit eigenen Ängsten umzugehen, ist Entwertung oder Hass. Es ist erschütternd, wie viel Hass vielen trans Personen im Alltag entgegenschlägt. Auf der sozialen Ebene wird die Verunsicherung dadurch verstärkt, dass sich auch unsere ganze Gesellschaft in einer Transitionsphase befindet.
Was meinen Sie damit?
Sie wird queerer. Von den Angehörigen der Generation Z bezeichnen sich einer internationalen Umfrage zufolge nur noch 68 Prozent als heterosexuell, während rund 4 Prozent der Befragten angaben, sich nicht mit dem Geschlecht zu identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Geschlechtliche Verortung und sexuelle Orientierung präsentieren sich in jüngster Zeit vielfältiger, widersprüchlicher, uneinheitlicher. Ein wachsender Teil der Gesellschaft öffnet sich gegenüber diesem Prozess. Das ist das Positive. Ein anderer Teil reagiert mit Abwehr.
Haben Sie dafür Verständnis?
Ja, durchaus. Was ich aber bedauere, ist, dass es inmitten einer zunehmend aufgeladenen und aggressiven Stimmung sehr schwer ist, über Ambivalenzen, Konflikte und Widersprüche zu diskutieren. Was natürlich ein Zeitgeistphänomen ist, das sich auch in anderen Bereichen zeigt. Schwarz und weiss, ja oder nein, dafür oder dagegen, Freund oder Feindin – wer auf derart starre Kategorien zurückgreift, versucht häufig, Unsicherheit zu überspielen.
Das klingt etwas herablassend.
Es ist aber überhaupt nicht so gemeint. Wir alle denken in Kategorien, wir müssen sogar in Kategorien denken.
Welche kritischen Reaktionen können Sie nachvollziehen?
Etwa den Eindruck, die sogenannte Gendersprache wolle den Leuten vorschreiben, wie sie zu sprechen haben. Ich teile diese Einschätzung nicht, aber ich finde, man sollte sie ernst nehmen.
Verschiedentlich hört man die Klage, trans Personen seien überempfindlich, sie würden jedes falsch verwendete Pronomen als Diskriminierung der trans Community im Allgemeinen und ihrer Person im Besonderen interpretieren.
Es liegt mir fern, jemanden als überempfindlich zu bezeichnen. Nicht unterschätzen sollten wir, wie viele Beleidigungen und wie viel Gewalt, ob verbal oder physisch, trans Personen in ihrem Alltag erleben. Was sich trans Menschen tagtäglich auf der Strasse anhören müssen, ist wirklich sehr heftig. In meiner Praxis mache ich übrigens andere Erfahrungen.
Nämlich?
Dass die überwiegende Mehrheit der trans Personen ein falsches Pronomen als problemlos empfindet, solange sie von ihrem Gegenüber Verständnis und Respekt erfahren.
Häufig ist auch der Vorbehalt, dass Jugendliche und junge Erwachsene von älteren Aktivistinnen und Aktivisten oder von Influencern auf sozialen Medien indoktriniert und zu einer Transition gedrängt werden. Trans werde immer mehr zum Modetrend, zum Lifestyle-Phänomen.
Ich würde auch solche Bedenken nicht einfach kategorisch zurückweisen. Bloss ging schon in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Angst um, homosexuelle Männer könnten unsere Kinder verführen und sie zum Schwulsein überreden. Das ist im Kern dieselbe Erzählung, die wir heute hören, wenn eine Schulklasse im Rahmen des Aufklärungsunterrichts mit einer Drag Queen konfrontiert wird.
Mit dem Unterschied, dass es damals noch keine sozialen Medien gab.
Die junge Generation handelt Geschlecht und sexuelle Orientierung während ihrer pubertären Entwicklung tatsächlich anders aus, als es frühere Generationen getan haben. Ich finde es falsch, dies einfach als Modetrend abzutun und reflexartig negativ zu konnotieren. Dass das Internet, die Digitalisierung, der Austausch mit Gleichaltrigen über soziale Medien auch bei einem möglichen Entscheid zu einer Transition eine Rolle spielen, wie bei anderen Entscheiden im Leben auch – damit müssen wir umgehen lernen. Dahinter steckt letztlich eine andere Form der Auseinandersetzung mit Problemen. Wir sollten solche Entwicklungen besser kennen lernen, bevor wir sie verurteilen. Das betrifft übrigens nicht bloss trans Personen.
Wie meinen Sie das?
Letztlich geht es bei dieser Diskussion grundsätzlich darum, wie wir als Gesellschaft mit Minderheiten und deren Anliegen umgehen. Bei trans Personen sprechen wir von etwa 0,5 bis 5 Prozent der Gesamtbevölkerung, von denen die Mehrheit von Diskriminierungen betroffen ist. Sind wir noch in der Lage, uns halbwegs sachlich darüber zu unterhalten, welche Präventions- und Schutzmassnahmen sinnvoll sind und welche nicht? Die Voraussetzung dafür wäre, dass wir Meinungsverschiedenheiten zulassen, statt uns gegenseitig Studien an den Kopf zu werfen und uns die Legitimation abzusprechen.
Einem jungen Menschen wird auf Tiktok in den Kopf gesetzt, er könnte trans sein. Sie als Psychologe bestärken ihn darin, nach einer oder zwei Sitzungen gibt es die ersten Hormone, und eine Chirurgin reserviert schon mal den Operationssaal für den geschlechtsangleichenden Eingriff …
… nein, das läuft definitiv nicht so! Solche Vorstellungen haben nichts mit der Realität zu tun, auch nicht in abgeschwächter Form. Niemand kommt hier rein und wird nach zwei Sitzungen operiert. Es geht den Psychologen und Psychologinnen in diesem Bereich darum, die Betroffenen wirklich gut kennen zu lernen. Und nicht nur sie, sondern auch ihr Umfeld, ihre Familie, ihren Bekanntenkreis. Wie lebt jemand, wie ist jemand aufgewachsen, wie gestaltet sich die soziale Teilhabe, bestehen psychische oder körperliche Vorerkrankungen? Das ist ein Prozess, der mehrere Monate dauert. Wir reden ausführlich mit den Menschen. Und Entscheidungen werden gemeinsam abgewogen, geprüft und besprochen.
Kommt es vor, dass Sie den Wunsch nach einer Transition ablehnen?
Wenn Sie von medizinischen Transitionsschritten sprechen: Ja, das kommt vor.
Auch den Wunsch einer minderjährigen Transperson nach Pubertätsblockern?
In unsere Sprechstunde kommen ausschliesslich volljährige Personen, die sich selbstständig und, falls sie es wünschen, mit unserer Unterstützung für oder gegen eine Transition entscheiden können. Ich weiss, dass Pubertätsblocker die Öffentlichkeit sehr umtreiben, aber aus professioneller Sicht wäre es unseriös, wenn ich mich dazu äusserte.
«Die Diskussion um Gendertoiletten wird von den Medien immer neu entfacht.»
Geradezu zum Symbol der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um trans Personen ist die Gendertoilette geworden. Ausserdem die Sauna, die Dusche, die Umkleidekabine im Fitnesscenter.
Das sind jene Orte, in denen sich im Alltag ganz konkret zeigt, wie wir traditionellerweise Geschlecht verstehen: hier die Frau, dort der Mann.
Was halten Sie von der Befürchtung, trans Frauen würden an solchen Orten nicht-trans Frauen in verstörende Situationen bringen und ihnen einen sicheren Raum streitig machen? So im Stil: Plötzlich erscheint in der Frauendusche eine Person mit männlichen Geschlechtsmerkmalen.
Ich finde es wichtig, die Ängste und Sorgen von Frauen, ob cis oder trans, ernst zu nehmen. Aber das scheint mir doch eine Diskussion zu sein, die von den Medien immer neu entfacht wird. Solche Vorfälle sind mir nicht bekannt, und wenn man sieht, was cis und trans Frauen an sexualisierter Gewalt erleben, sollte man schon die Relationen wahren. Auf der einen Seite schaut man ständig hin, dramatisiert, stereotypisiert und diskriminiert. Auf der anderen schaut man häufig weg und verharmlost – das ist verlogen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.