Statement der StaatsanwaltschaftTodesfahrt in Berlin: Fahrer kommt in die Psychiatrie
Nach der Amokfahrt in der deutschen Hauptstadt kommen erste Ergebnisse zu Tage. Die Ermittler gehen davon aus, dass der mutmassliche Täter an einer paranoiden Schizophrenie leidet.
In den Stunden nach der Todesfahrt in Berlin hatten sich die Hinweise verdichtet, nun ist die Staatsanwaltschaft sicher: Eine psychische Erkrankung des Autofahrers hat nach Überzeugung der Ermittler dazu geführt, dass der 29-Jährige über Gehwege des Ku’damms und der Tauentzienstrasse in Menschengruppen gerast ist. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann Mord in einem Fall und versuchten Mord in 17 Fällen vor und will, dass er bis zum Prozess in einem psychiatrischen Spital bleibt.
Besonders getroffen von der Tat ist eine Schulklasse aus Bad Arolsen, deren Fahrt in die Hauptstadt ein jähes Ende fand. Nach dem Tod der Lehrerin steht die kleine nordhessische Stadt unter Schock und bangt mit einem verletzten Lehrer und sieben Jugendlichen.
Medikamente in Wohnung gefunden
Es gebe Anhaltspunkte dafür, dass der festgenommene Mann an einer paranoiden Schizophrenie leide, sagte am Donnerstag der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Sebastian Büchner. Bei der Durchsuchung der Wohnung des 29-Jährigen seien Medikamente gefunden worden. Der Beschuldigte habe seine Ärzte von der Schweigepflicht entbunden. Am Abend erliess das Amtsgericht Tiergarten den von der Staatsanwaltschaft beantragten Unterbringungsbefehl.
Bei der Todesfahrt am Mittwoch sei der Beschuldigte in zwei Menschengruppen gefahren, so Büchner. Er sei «bewusst mit einem Fahrzeug» in eine erste Gruppe von Menschen an der Ecke Ku’damm und Rankestrasse sowie dann auf der Tauentzienstrasse in eine Gruppe von Schülern und Lehrern gefahren. Es gebe keine Anhaltspunkte für einen terroristischen Hintergrund. «Aber auch ein Unfall wird sich vor diesem Hintergrund ausschliessen lassen», sagte Büchner.
Von der detuschen Regierung als auch von der Landesregierung wurde der Vorfall als Amoktat eingestuft. Nach Kanzler Olaf Scholz äusserte sich auch Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey am Donnerstagmorgen entsprechend: «Das hat sich gestern Abend verdichtet», sagte Giffey im RBB-Inforadio. Durch die Ermittlungen der Polizei sei klar geworden, «dass es sich um die Amoktat eines psychisch schwer beeinträchtigten Menschen handelt». Auch Berlins Innensenatorin Iris Spranger hatte sich am Mittwochabend bei Twitter so ausgedrückt.
Staatsanwaltschaft und Polizei nutzten den Begriff «Amoktat» hingegen zunächst bewusst nicht. Der Fall weckt auch Erinnerung an eine Amokfahrt auf der Stadtautobahn A100 im August 2020, als ein Autofahrer gezielt drei Motorradfahrer rammte. Er wurde vom Gericht in die Psychiatrie eingewiesen.
«Amok» geht auf das malaiische «amuk» zurück, das «zornig» oder «rasend» bedeutet. Mittlerweile dient «Amok» als erweiterter Begriff für jede blindwütige Aggression mit und ohne Todesopfer. Amokläufer sind meistens männlich und führen in der Regel ein eher unauffälliges Leben. Ursache ihrer Taten sind Forschern zufolge neben seelischen Erkrankungen häufig narzisstische Persönlichkeitsstörungen, aus denen Motive wie Wut, Hass und Rache resultieren.
Der Polizei öfters aufgefallen
Nach jüngstem Kenntnisstand habe der 29-Jährige in der Vergangenheit psychische Probleme gehabt, führte Innensenatorin Spranger am Donnerstag im Berliner Abgeordnetenhaus aus. Der Mann armenischer Herkunft sei 2015 eingebürgert worden. Polizeilich sei er öfter aufgefallen, es habe Ermittlungen gegeben wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruchs und Beleidigung.
Über politische und extremistische Taten sei nichts bekannt. «Auch im Zusammenhang mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen ist der Tatverdächtige bisher nicht aufgefallen», so Spranger.
Im Auto sei kein Bekennerschreiben gefunden worden. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wurden zwei handgeschriebene Plakate gefunden mit einer «ganz entfernten Bezugnahme zum Bergkarabach-Konflikt». «Nach derzeitigen Kenntnisstand steht das aber in keinerlei Beziehung zu dem Geschehen», sagte Behördensprecher Büchner.
Am Tatort lief unterdessen der Verkehr wieder normal. Sämtliche Absperrungen am Breitscheidplatz waren am Tag nach der Todesfahrt aufgehoben. Allerdings zeugten Markierungen wie etwa gelbe Farbkreise auf dem Gehweg von dem dramatischen Geschehen. Menschen haben Blumen und Kerzen niedergelegt.
Grosse Trauer auch im Bundesland Hessen
Der Ort befindet sich unweit der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg. Dort war im Dezember 2016 ein islamistischer Attentäter in einen Weihnachtsmarkt gefahren. Dabei und an den Spätfolgen starben 13 Menschen, mehr als 70 wurden verletzt. Fünfeinhalb Jahre später zog es den Berliner Egbert Schmidt zum Unglücksort. Er war nach eigenen Angaben damals auf dem Weihnachtsmarkt. «Das ist wie ein Déjà-vu», meinte er. «Als ich die Meldung las und die Gedächtniskirche eingeblendet war, dachte ich: Nee, schon wieder?»
Auch in Hessen erinnern Blumen und Kerzen an die Todesfahrt in Berlin. Sie liegen vor dem gelb-weissen Gebäude der Real- und Hauptschule im Ortskern der 16’000 Einwohner zählenden Kleinstadt Bad Arolsen. Hessens Ministerpräsident Boris Rhein und Kulturminister Alexander Lorz besuchten die Schule. «Es ist für uns ein ganz schwerer Tag, und wir haben ganz schwere Herzen», sagte Rhein.
Schülerinnen und Schüler einer 10. Klasse und ihre Lehrkräfte waren am Mittwochvormittag in der Nähe der Berliner Gedächtniskirche zu Fuss unterwegs, als das Auto in die Gruppe fuhr. Die Lehrerin starb, der Lehrer wurde lebensbedrohlich verletzt, sieben Jugendliche kamen schwer verletzt ins Spital. Insgesamt sprach die Berliner Staatsanwaltschaft nach jüngsten Angaben vom späten Donnerstagnachmittag von insgesamt 32 Verletzten, 50 weitere seien psychologisch betreut worden. Die Opfer, Angehörigen, Augenzeugen und Freunde an der Kaulbach-Schule werden ebenfalls von einem Team von Schulpsychologen betreut.
SDA/fal
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