Auftakt Zürcher Theater SpektakelWie man es aus einem Knast in Argentinien ans Theater Spektakel schafft
Die argentinische Regisseurin Lola Arias holt in «Los días afuera» queere und weibliche ehemalige Gefängnisinsassen auf die Bühne – und mit ihnen viel Energie.

Hinter Gittern träumen die sechs von der Freiheit, draussen auch. Denn Freiheit stellt sich nicht einfach so ein, sobald man aus dem Gefängnis entlassen ist: Den Stempel «vorbestraft» schleppt man immer mit, die Nachbarschaft schaut einen schief an, potenzielle Arbeitgeber sowieso. Und die Familienbande, selbst zu den eigenen Kindern, sind oft zerfasert über die Zeit, in der Mama im Gefängnis sass. Auch die Gründe, die überhaupt erst zu illegalem Verhalten und Haft geführt haben, die schwierigen Umstände, sind nicht einfach verschwunden.
Davon erzählt das neue Community-Projekt der argentinischen multidisziplinären Künstlerin Lola Arias, das man Anfang Jahr bei der Berlinale sehen konnte. Die 47-Jährige bezeichnet den Film «Reas» (ihren zweiten) in Interviews als «hybrides Musical».

Er fusst auf Gesprächen, die sie in argentinischen Frauengefängnissen geführt hat – mit cis-Frauen und trans Personen, mit Rechtsanwältinnen, Psychologen und Sozialarbeitern –, und wird von musikalischen Einlagen der ehemaligen Häftlinge getaktet und durchbrochen.
Ausgangspunkt dafür war die Rockband gewesen, die zwei der Häftlinge als seelischen Rettungsring ins Leben gerufen hatten. Nun hat Arias aus dem Film, teils mit gleichem Personal, ein Theatermusical geschaffen, dessen Uraufführung sie im Juli in Avignon besorgte: «Los días afuera (Die Tage draussen)». Diese Tage zählen die Ex-Häftlinge, es ist trotz allem ihr kostbarstes Gut. Nach den Lebenswirbelstürmen fanden sie in sich eine Stärke, die sie bis ans Zürcher Theater Spektakel trug.
Während «Los días afuera» wird viel gelacht
Dass das Festival die Arbeit nun für seine Eröffnung programmiert hat, ist da fast ein Muss. Schliesslich sprechen sich die Spektakelmacher explizit für ein Theater aus, das globale Konflikte und Krisen reflektiert; dabei steht auch die Form des Doktheaters im Fokus. Denn diese ist mit ihren «Experten des Alltags», also den häufig mitspielenden Laien, und mit dem jeweils genau recherchierten Hintergrund nicht bloss nah dran an der Wirklichkeit, sondern auch an uns, am Publikum. Beim Auftakt in der Bühne Nord am Donnerstag auf der Landiwiese wurde während der Vorstellung von «Los días afuera» viel gelacht und geklatscht, manche waren zwischendurch schier zu Tränen gerührt, und am Schluss gabs stürmischen Applaus.
Jede der Personen erzählt ihre Geschichte, etwa vom schwierigen Coming-out als Transperson oder von der Verhaftung mit einem Koffer Kokain. Von Drogensucht, Prostitution und Gewalt, aber auch von Freundschaft, Gefängnis-Tattoos und tröstendem Aberglauben. Vor allem aber von den schlimmen Zuständen in den Gefängnissen. «Als trans Mann bist du überall Zielscheibe», heisst es da. Weder im Frauen- noch im Männergefängnis ist man willkommen, tief einzuschlafen birgt das Risiko, nicht mehr aufzuwachen.

Später, draussen, erhielt der trans Mann nach langem Bemühen eine Stelle bei der Gemeinde – bis der rechtspopulistische Javier Milei zum Präsidenten gewählt wurde. «So viel Schmerz!», ruft eine der Darstellerinnen in einem Interview vorab aus. Doch die Möglichkeit, diesen auf der Bühne zu verwandeln, die sei schlicht magisch.
Für die Darstellenden ermöglichen der Theatervertrag, der Lohn, die Reisen, die Visa einen unverhofften Blick auf die «andere Seite» – der hilft, Wunden vernarben zu lassen. Wie bei Milo Rau gehört auch bei Arias diese effektive Weltveränderung für diskriminierte Menschen essenziell zur Theaterarbeit dazu.
Im Grunde ist das hier mehr Aktivismus als Kunst. Die freudige Energie des Ensembles überträgt sich zwar auf den Abend, die Zuschauenden swingen quasi mit. Aber die variétéartige Nummernrevue mit Roadmovie-Vibes, das mehr oder weniger unverbundene Aneinanderreihen von Erfahrungsbericht und Song, illustriert mit Videobildern und Live-Cam-Passagen aus einem Auto, trägt, rein ästhetisch gesprochen, den knapp zweistündigen Abend nur begrenzt.
Zumal die Performenden unüberhörbar keine Musik- und Theaterprofis sind, abgesehen von Livemusikerin Inès Copertino. Auch die teilweise anscheinend eher gering entwickelte Selbstreflexion der beispielsweise wegen Raub Verurteilten irritiert da und dort.
Das mag bünzlig klingen, doch vielleicht war das Ganze, in dieser Länge, einen Tick zu roh. Etwas poliert, gestrafft und nachjustiert hätte die Magie wohl auch die Kritikerin in Bann geschlagen.
Weitere Aufführungen: Freitag, 16.8., 19 Uhr; Samstag, 17.8., um 18 Uhr.
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