Attentat auf WeihnachtsmarktVerdächtiger drohte bereits vor Jahren mit Anschlag, Bundesamt erhielt Hinweise
Der mutmassliche Attentäter Taleb A. muss in U-Haft. Er war den Behörden bekannt.
Nach der tödlichen Fahrt mit einem Auto über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg ist Haftbefehl gegen den festgenommenen Tatverdächtigen erlassen worden. Der 50-Jährige müsse wegen des Vorwurfs fünffachen Mordes, mehrfach versuchten Mordes und mehrfacher gefährlicher Körperverletzung in Untersuchungshaft, teilte die Polizei am Sonntagmorgen in Magdeburg mit. Der Verdächtige war am Samstagabend einem Haftrichter vorgeführt worden.
Nach der Tat mit fünf Todesopfern und 200 Verletzten am Freitagabend war der Mann zunächst in Polizeigewahrsam gebracht worden. Der Verdächtige ist ein als Islam-Kritiker bekannter Arzt aus Bernburg, der aus Saudiarabien stammt. Es handele sich um einen Einzeltäter, nach bisherigen Ermittlungen gebe es keine Hinweise auf einen zweiten Täter, teilten die Ermittler mit.
Der Mann soll freigehaltene Rettungsgassen genutzt haben, um mit seinem Auto über den Weihnachtsmarkt zu rasen und mit grosser Geschwindigkeit Menschen umzufahren. Nach Behördenangaben wurden vier Frauen im Alter von 45, 52, 67 und 75 Jahren sowie ein neunjähriger Junge getötet. Der Angriff auf den Weihnachtsmarkt löste nicht nur in Deutschland Entsetzen und Trauer aus, auch aus dem Ausland gab es bestürzte Reaktionen.
Verweise auf Boston-Attentäter
Der mutmassliche Täter des Anschlags ist vor mehreren Jahren in Mecklenburg-Vorpommern wiederholt mit der Androhung von Straftaten aufgefallen. Im Jahr 2013 wurde er vom Amtsgericht Rostock zu 90 Tagessätzen wegen Störung des öffentlichen Friedens durch die Androhung von Straftaten verurteilt, wie Landesinnenminister Christian Pegel (SPD) bei einer Pressekonferenz in Schwerin sagte. Zuvor hatte der «Spiegel» über das Urteil berichtet.
Dem Minister zufolge hat der heute 50-jährige Taleb A. von 2011 bis Anfang 2016 in Mecklenburg-Vorpommern gelebt und in Stralsund Teile seiner Facharzt-Ausbildung absolviert. In einem Streit um die Anerkennung von Prüfungsleistungen habe er gegenüber Vertretern der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern mit einer Tat gedroht, die internationale Beachtung bekommen werde. Dabei habe er auf den Anschlag beim Boston-Marathon verwiesen. Im Zuge der Ermittlungen gab es laut Pegel auch eine Durchsuchung bei dem Mann. Es seien jedoch keine Hinweise auf eine reelle Anschlagsvorbereitung gefunden worden, ebenso keine islamistischen Bezüge. «Im Gegenteil, er schien sich zu distanzieren und Gegenteiliges zu vertreten», sagte Pegel.
Hinweise über Social Media
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hatte nach eigenen Angaben vor der Attacke in Magdeburg einen Hinweis zu dem mutmasslichen Täter erhalten. Der Hinweis sei im Spätsommer letzten Jahres über die Social-Media-Kanäle eingegangen, schrieb das Bamf am Samstag auf der Plattform X. «Dieser wurde, wie jeder andere der zahlreichen Hinweise auch, ernst genommen.»
Da das Bundesamt keine Ermittlungsbehörde sei, sei die hinweisgebende Person, wie in solchen Fällen üblich, direkt an die verantwortlichen Behörden verwiesen worden, hiess es.
Im Netz kursieren derzeit Screenshots, die Nachrichten einer Person mit Warnungen vor dem mutmasslichen Täter Taleb A. an das Bamf zeigen sollen. Die Echtheit dieser Screenshots war zunächst nicht zu verifizieren.
Warnungen auch aus Saudiarabien
Der Chef des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, sagte am Samstagabend im ZDF-«Heute-Journal», das BKA habe im November 2023 zudem einen Hinweis aus Saudiarabien zu dem Mann bekommen. «Hier ist auch ein Verfahren eingeleitet worden. Die Polizei in Sachsen-Anhalt hat dann auch entsprechende Ermittlungsmassnahmen vorgenommen.» Die Sache sei aber unspezifisch gewesen.
«Er hat auch verschiedene Behördenkontakte gehabt, Beleidigungen, auch mal Drohungen ausgesprochen. Er war aber nicht bekannt, was Gewalthandlungen angeht», sagte Münch zu dem Verdächtigen. Diese Dinge müssten aber noch mal überprüft werden, um zu schauen, ob den Sicherheitsbehörden etwas durchgegangen sei. «Wir haben hier ein völlig untypisches Muster, und wir müssen das auch in Ruhe jetzt auch analysieren.»
Der mutmassliche Täter Taleb A. stammt aus Saudiarabien und war 2006 nach Deutschland gekommen. In sozialen Medien und Interviews erhob er zuletzt teils wirr formulierte Vorwürfe gegen deutsche Behörden. Er hielt ihnen unter anderem vor, nicht genügend gegen Islamismus zu unternehmen. Nachdem er vor Jahren mit seiner Unterstützung für saudische Frauen, die aus ihrem Heimatland fliehen, an die Öffentlichkeit gegangen war, schrieb er später auf seiner Website in englischer und arabischer Sprache: «Mein Rat: Bittet nicht um Asyl in Deutschland.»
Debatte über Sicherheitskonzept
Für Diskussionen sorgt auch, dass der Tatverdächtige trotz Sicherheitsmassnahmen mit seinem Wagen auf den Weihnachtsmarkt gelangen konnte. Er soll über einen Flucht- und Rettungsweg auf den Markt gelangt sein, wie Polizeiinspektionsdirektor Langhans berichtete. Ronni Krug, Beigeordneter für Personal, Bürgerservice und Ordnung der Stadt, sagte dazu: Das Sicherheitskonzept für den Markt sei «nach bestem Wissen und Gewissen» erstellt und zuletzt im November verschärft worden.
Der Extremismus-Experte Hans-Jakob Schindler äusserte in den ARD-«Tagesthemen» hingegen Zweifel. Es sei seit Jahren bekannt, dass Fahrzeuge und Menschenansammlungen eine sehr gefährliche Kombination darstellten. Es sei daher «schwer zu erklären, wieso es einem Fahrzeug gelungen ist, auf einen Weihnachtsmarkt in Deutschland zu gelangen», sagte er.
Gedenkgottesdienst und rechte Demos
Viele Menschen in Magdeburg gedachten am Samstagabend der Opfer und ihrer Angehörigen. Allein vor dem Dom beteiligten sich nach ersten Schätzungen der Polizei mehr als 1000 Menschen am Gedenken – eine grosse Videoleinwand war aufgebaut, auf die der Gottesdienst aus dem Dom übertragen wurde. Auch Olaf Scholz war unter den Anwesenden. Um 19.02 Uhr läuteten genau 24 Stunden nach dem Anschlag die Glocken aller Kirchen in der Stadt.
Vielerorts in der Stadt legten Trauernde Blumen ab und zündeten Kerzen für die Opfer an. Oberbürgermeisterin Simone Borris (parteilos) rief die Magdeburger auf, trotz der erschütternden Geschehnisse zusammenzuhalten. Doch das kam nicht bei allen an: Ein paar Dutzend Menschen schlossen sich kurz vor dem Gottesdienst einer Demonstration von rechten und rechtsextremen Gruppierungen in der Innenstadt an. Zu sehen waren dort unter anderem Fahnen der Neonazi-Partei Die Heimat (früher NPD), andere trugen Kleidung der AfD. Auf Schildern stand «Das Blut klebt an euren Händen» neben den Farben der Ampel, «Schluss mit der Politik gegen das eigene Volk» und «Remigration jetzt!»
DPA/roy/fem