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Tätowierer ärgern sich
Neue Regeln für Tätowierfarben: «Gleich drei Kunden hatten starke Hautreaktion»

Gefährliche Tätowierfarben. Tätowierer Andreas Schwerfeger im Tattoo-Studio 32 Tatoo.  Foto: Beat Mathys / Tamedia AG.
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Andreas Schwertfeger will nochmals auf sein Werk blicken. Vor einem halben Jahr hat er das Tattoo seinem Kunden Michael Boog in den Unterarm gestochen. «Zeig mal, wie sieht es denn jetzt aus?», fragt Schwertfeger. Boog krempelt den Hemdärmel hoch. «Immerhin juckt es nicht mehr so fest», antwortet er. Doch noch immer lassen sich die roten Linien des Sujets ertasten. Nur langsam klingt die allergische Reaktion ab.

«Es ist immer dieses verdammte Rot», sagt Schwertfeger. «Ich habe jedes Jahr zwei bis drei Kunden, die allergisch darauf reagieren.» Eigentlich ist schon lange bekannt, dass rote Tätowierfarben mehr allergische Reaktionen bewirken als alle anderen Farbtöne. Doch selbst Expertinnen und Experten wissen nicht, weshalb. Auch andere Pigmente sorgen regelmässig für akute Hautreaktionen wie etwa Infektionen, Entzündungen oder Granulome, wie eine Anfrage beim Unispital Basel bestätigt. Zudem sind die Tinten oft stark mit Schwermetallen und krebserregenden Stoffen wie aromatischen Aminen oder polyaromatischen Kohlenwasserstoffen kontaminiert.

Seit Februar gelten in der Schweiz neue Regeln für Stoffe, die in Tätowierfarben und Permanent-Make-up enthalten sind. Grundlage ist die europäische Verordnung Reach (Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals), die seit zwei Jahren für gefährliche Chemikalien strenge Grenzwerte definiert. Die neuen Regulierungen stürzen die Tätowierbranche in ein Dilemma.

Die Schweiz ist der EU bei der Regulierung voraus

Schwertfeger machte eigentlich alles richtig: Die von ihm bevorzugte rote Farbe war aufgrund der EU-Bestimmungen nicht mehr erhältlich, also bestellte er bei seinem Schweizer Händler eine konforme Alternative. Trotzdem: «Gleich drei Kunden hatten eine starke Hautreaktion», sagt Schwertfeger. Als er beim Händler reklamierte, räumte dieser ein, dass auch andere Tattoo-Studios mit der Farbe Probleme gehabt hätten.

Gefährliche Tätowierfarben. Tätowierer Andreas Schwerfeger im Tattoo-Studio 32 Tatoo.  Foto: Beat Mathys / Tamedia AG.

Jeder fünfte Erwachsene in der Schweiz ist tätowiert. In den Nullerjahren kam der Boom. Und die Behörden merkten, dass es sinnvoll wäre, etwas darauf zu schauen, was da tatsächlich unter die Haut gespritzt wird. In der Schweiz geschah dies bereits 2004. «Dadurch hatten wir lange die wohl umfassendsten Regeln für Tätowierfarben», sagt Chemiker Urs Hauri vom kantonalen Labor des Kantons Basel-Stadt.

Doch die Tattoo-Branche plagt ein grosses Grundproblem: «Es gibt bis heute keinen Hersteller auf der Welt, der Farbpigmente ausschliesslich für Tätowierungen herstellt.» Sie seien also niemals so rein, wie Stoffe eigentlich sein sollten, wenn sie in den menschlichen Körper gelangten, und insbesondere toxikologisch für diesen Zweck auch nicht untersucht. «Die Firmen, die diese Pigmente der Farbindustrie abkaufen und damit Tätowierfarben zusammenmischen, haben also wenig Kontrolle darüber, wie stark ihre Produkte kontaminiert sind und ob sie für Tätowierungen wirklich sicher sind.» Das Fazit: Die Regulierungen sind vor allem Schadensbegrenzung. «Die Alternative wäre, Tattoo-Tinten gleich ganz zu verbieten.»

Die EU zögerte daher lange, Regulierungen einzuführen. Als sie es 2022 dennoch tat, gab es auch Kritik: Statt wie bei der Kosmetik ein eigenes Gesetz auszuarbeiten, wurde auf die bestehende Reach-Verordnung zurückgegriffen. Damit werden beispielsweise viele Konservierungsmittel – im Gegensatz zur Schweizer Gesetzgebung, wo diese zusätzlich geregelt sind – nicht abgedeckt. Dazu fehlen weiterhin Studien und toxikologische Modelle, inwiefern und in welcher Dosis die in Reach festgelegten Stoffe effektiv in Tätowiertinten schaden. Auch wie sich die Farben auf das Immunsystem auswirken, ist nicht bekannt, obwohl die Pigmente oder Abbauprodukte oftmals in die Lymphen gelangen. «Die Grenzwerte sind für die meisten Stoffe identisch und resultieren aus Risikobeurteilungen für einige wenige Leitchemikalien», sagt Hauri. «Hier müsste bei Bedarf wohl nachgerechnet werden.»

Tätowiererinnen und Tätowierer in der EU fürchteten deshalb, dass die meisten Farben durch die strengen Grenzwerte unersetzbar verloren gehen würden. Denn praktisch keines der damals vorherrschenden Produkte war Reach-konform. Insbesondere in Deutschland, wo noch keine Gesetzgebung existierte, ging die Branche auf die Barrikaden. Die Berufsverbände verfassten Protestbriefe und versuchten, mit Petitionen die Regulierungen zu verhindern.

Die meisten Tinten halten die Regeln nicht ein

Auch zu Schwertfeger kamen Kunden, die fragten, ob ein farbiges Tattoo zukünftig überhaupt noch möglich sei. Er selbst versteht die Panik nur bedingt: «Früher hatten wir vielleicht vier Marken und neben Schwarz gerade noch die Grundfarben. Mittlerweile gibt es unendlich viele, wobei die Farbunterschiede auf der Haut meist gar nicht sichtbar sind.» Ein handwerklich gutes Tattoo benötige nicht Dutzende Farben, sondern hauptsächlich einen fähigen Tätowierer.

Der 49-Jährige trägt Tattoos an den Armen, Beinen, am Hals und wohl auch an zahlreichen anderen Orten, die bedeckt sind. Mit seiner übergrossen, schwarzen Hornbrille auf der Nase, der E-Zigarette in der Hand und seiner direkten Ausdrucksweise scheint der gelernte Schreiner und langjährige Sozialarbeiter quasi der Prototyp des Berner Tätowierers zu sein. Mittlerweile ist er seit 26 Jahren im Studio 32Tattoo tätig, wo er sich ausbilden liess. 2005 übernahm er das Geschäft.

Zahlen des kantonalen Labors des Kantons Basel-Stadt aus vergangenen Jahren zeigen, dass ein grosser Teil der in der Schweiz verwendeten Tätowierfarben bereits vor der EU-Verordnung nicht den geltenden Regeln entsprach. Die neuen Anpassungen verschärfen dies noch mehr, so Hauri. «Untersuchungen haben gezeigt, dass sie für die Hersteller kaum einzuhalten sind.» Eine Untersuchung von sogenannten «Reach-konformen» Tätowierfarben Ende 2022, also bereits nach der EU-Umstellung, zeigte zwar, dass die Kontamination mit gefährlichen Chemikalien und verbotenen Farbpigmenten deutlich abgenommen hatte. Aus den 31 geprüften Tätowierfarben war dennoch nur eine einzige vollumfänglich innerhalb der neuen Limiten.

Dass die Tätowierer dieser Tatsache ausgeliefert sind, ist Hauri bewusst: «Wenn ein Tätowierer bei Schweizer Händlern gesetzeskonforme Farben einkauft, hat er seine Verantwortung wahrgenommen.» Denn diese Händler würden unter der Schweizer Gesetzgebung kontrolliert und seien so für die Produkte verantwortlich. Bestellt ein Tätowierer seine Tinten direkt im Ausland, haftet er selbst. Für die neuen Reach-Regeln gilt aber noch eine Übergangsfrist: Bis Februar 2025 werden die Farben noch unter der alten Gesetzgebung beurteilt.

«Das Stechen eines Tattoos ist keine Yogastunde»

Schwertfeger macht deutlich, dass er kein Freund von Regulierungen ist. Der Austausch mit den Inspektoren sei jedoch professionell. «Sie wissen, was sie machen und was sie sehen wollen.» Er habe aber auch Berufskollegen, die die Kontrollen als Schikane empfänden. «Ich kein bisschen, weil ich mit gutem Gewissen alles zeigen kann.» Doch klar, sagt er, sei auch er schon mal gebüsst worden. «Da bestellst du einmal im Ausland, weil du Geld sparen willst, und plötzlich hast du ein falsches Produkt im Regal.»

Natürlich liegt es Schwertfeger am Herzen, die Risiken zu vermeiden. «Ich bin ja auf Kundschaft angewiesen und möchte mein Kunsthandwerk auf die Haut bringen», sagt er. «Doch schlussendlich ist das Stechen eines Tattoos keine Yogastunde. Ich denke, das wissen alle, die in mein Studio kommen.»

Dennoch braucht es genauso wie beim Yoga eine gewisse menschliche Wärme. «Ein Tattoo zu stechen, ist etwas Unangenehmes. Es tut weh, du blutest und schwitzt», sagt Kunde Michael Boog. Da müsse es zwischenmenschlich passen. «Ja, in diesem Job brauchst du Empathie. Beim Tätowieren lässt du sozusagen die Hosen runter», sagt Schwertfeger. Daher seien Menschenkenntnisse genauso wichtig wie das Handwerk.

Und sind die vorhanden, geht das Kundenverhältnis auch durch die verfluchte rote Farbe nicht verloren. «Hast du das bereits jemandem tätowiert?», fragt Boog am Ende des Gesprächs, während er auf die Zeichnung eines schwarzen, pantherartigen Tierkopfs an der Wand zeigt. Ja, antwortet Schwertfeger. Er könne das Sujet jedoch problemlos etwas anpassen. Die beiden Männer verstehen sich weiterhin blendend – und vereinbaren vor der Verabschiedung gleich den nächsten Termin.