Sugardaddy-Prozess in DielsdorfNutzte ein 50-Jähriger die Notlage einer 14-jährigen Obdachlosen sexuell aus?
Ein vorbestrafter Stadtzürcher Beizer suchte auf einer Sugardaddy-App nach einer Frau. Doch er fand ein verzweifeltes Kind, das nicht mehr weiterwusste.
- Die obdachlose Sophie D. wurde über eine Sugardaddy-App vom Beizer Jeevan F. kontaktiert.
- In einem Hotel in Rümlang hatte der 50-Jährige mit der 14-Jährigen ungeschützten Sex.
- Die Staatsanwaltschaft Zürich klagte den Fall erst an, als das Obergericht intervenierte.
- Ein Einzelrichter sprach den Beschuldigten in zwei von drei Anklagepunkten frei.
Plötzlich stand die 14-jährige Zürcherin Sophie D. (Name geändert) ohne Zuhause da. Ihre Wohngruppe musste sie im Juni 2022 wegen anhaltender Konflikte verlassen. Eine neue Bleibe hatte ihre Sozialarbeiterin noch nicht gefunden. Zu ihrer Mutter konnte sie aufgrund der schwierigen Verhältnisse nicht. Ihren Vater lernte die Jugendliche nie kennen. In eine Stadtzürcher Notunterkunft wollte sie nicht, weil sie dort schlechte Erfahrungen mit Suchtkranken gemacht hatte.
«Konfrontiert mit der überwältigenden Angst, isoliert, allein und schutzlos auf der Strasse zu stehen, sah sie nur eine Möglichkeit: sich selbst zu helfen», schreibt die auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene spezialisierte Zürcher Beratungsstelle Kokon in ihrem Bericht. Die 14-Jährige meldete sich bei einer Sugardaddy-App an, über die Männer junge Frauen für Sextreffen suchen und dafür Geld und Geschenke bieten. Sophie D. wählte bei der Anmeldung das Geburtsjahr 2004, denn Nutzerinnen müssen mindestens 18 Jahre alt sein, um sich registrieren zu können. Überprüft wurde ihr Alter nicht.
Kurz nach ihrer Anmeldung bei der Sugardaddy-App schrieb ihr der 50-jährige Jeevan F. (Name geändert). Der aus Südasien stammende Beizer betreibt eine Bar in einem Stadtzürcher Ausgehquartier. Er ist wegen eines illegal aufgestellten Spielautomaten und Misswirtschaft vorbestraft.
Diese Woche musste er sich vor dem Bezirksgericht Dielsdorf wegen sexueller Handlungen mit einem Kind, mit einer Minderjährigen gegen Entgelt und Ausnützung einer Notlage verantworten. Der Beschuldigte bestreitet die Vorwürfe.
Kaputte Schuhe und Hunger
Der 50-Jährige und die angeblich 18-jährige Sophie D. vereinbarten im Juli 2022 ein Treffen auf einem Parkplatz in Winterthur. Dort erzählte sie ihm, dass sie obdachlos sei, zu niemandem könne und grossteils von der Sozialhilfe lebe, wie aus der Anklageschrift hervorgeht. Der Polizei sagte der 50-Jährige später, er habe mit Sophie D. besprochen, «sich regelmässig zu treffen und Sex zu haben«. Laut Anklage gab er der 14-Jährigen an jenem Tag 200 Franken. «Sie hat mir ihre kaputten Schuhe gezeigt und wollte etwas essen gehen, deshalb habe ich ihr das Geld gegeben», sagte der Beschuldigte vor Gericht.
Zwei Tage nach dem ersten Treffen holte Jeevan F. die 14-Jährige mit dem Auto vom Bahnhof Oerlikon ab. «Im Wissen, dass die Geschädigte keine Zufluchtsmöglichkeit bei ihrer Familie hatte und daher obdachlos und finanziell nicht in der Lage war, ein Hotel zu bezahlen, reservierte der Beschuldigte ein Zimmer (…) in Rümlang», schrieb die Staatsanwältin in ihrer Anklage.
Opferanwältin: «Schauen Sie sich dieses Kind an»
Im Hotel habe der 50-Jährige Sophie D. aufgrund ihres kindlichen Aussehens nach ihrem Alter gefragt. Sie habe ihm geantwortet, knapp 19 zu sein. Der offensichtlich misstrauische Jeevan F. fragte sie nach zwei Ausweisen. Sie antwortete, sie habe einen verloren und den anderen nicht dabei.
Richter: «Wie kontrollieren Sie in Ihrer Bar die Altersbeschränkungen, wenn jemand keinen Ausweis dabei hat?»
Beschuldigter: «Dann sagen wir Nein.»
Richter: «Warum haben Sie dann bei der Geschädigten nicht Nein gesagt?»
Beschuldigter: «Weil wir uns vorher schon getroffen und geredet haben. Ich habe ihr ihr Alter geglaubt.»
Diese Aussage macht Claudia Schaumann, Opferanwältin von Sophie D., wütend: «Wenn ein Teenager keinen Ausweis zeigen kann, dann kann kein Mann ernsthaft annehmen, sie sei schon 18. Vielmehr muss ihn das erst recht misstrauisch machen«, sagte sie vor Gericht.
Doch im Hotelzimmer in Rümlang begann der 50-Jährige die 14-Jährige zu küssen. Es kam zu Oralsex und ungeschütztem Geschlechtsverkehr, wie Jeevan F. zugibt. Nach dem Sex gab er ihr laut Anklage 50 bis 100 Franken.
Verteidiger: «Er wollte ihr helfen»
Einen Tag nach dem ersten Geschlechtsverkehr buchte der Beschuldigte ein günstigeres Hotel in Rümlang um 665 Franken für sieben Nächte. Wieder kam es zum ungeschützten Sex, obwohl die 14-Jährige zuvor Nein gesagt und Ausreden gesucht hatte, um das Hotelzimmer zu verlassen. «Dass er trotz einer gerade überstandenen Geschlechtskrankheit nicht einmal ein Kondom benutzte, zeugt von zusätzlicher Rücksichtslosigkeit», sagt Schaumann.
Nach dem Geschlechtsverkehr zahlte Jeevan F. der 14-Jährigen laut Staatsanwaltschaft noch 100 Franken. «Mein Mandant hat ihr das Geld gegeben und das Hotelzimmer bezahlt, weil er ihr helfen wollte. Ein Konnex mit sexuellen Handlungen bestand nicht«, sagt Verteidiger Jürg Waldmeier.
Beschuldigter: «Es ist nicht meine Schuld»
Die Beratungsstelle Kokon schreibt in ihrem Bericht: «Der wiederholte Sex unter Ausnutzung ihrer Notlage hat Sophie D. tiefe psychische Wunden zugefügt.» Die Erfahrung, sich in der Not verkaufen zu müssen, habe bei der 14-Jährigen «Ekel, Abscheu und Grauen» ausgelöst, wie sie in Beratungsgesprächen sagte.
Lob für die Polizei von Opferanwältin
Einen Tag nach dem dritten Treffen geriet die 14-Jährige mit einem gleichaltrigen Freund in eine Polizeikontrolle. Weil dieser erwähnte, dass sie bei einem alten Mann im Hotel wohne, wurden die Beamten hellhörig. «Die Polizei hat vorbildlich reagiert – ihr ist es zu verdanken, dass Sophie so schnell dieser Ausnützungssituation entkam», sagt Schaumann. Jeevan F. wurde am selben Tag festgenommen und kam nach zwei Tagen Haft wieder frei.
Die zuständige Staatsanwältin hat die Ermittlungen zunächst eingestellt, weil ihrer Meinung nach die rechtlichen Voraussetzungen für eine Anklage fehlten. Nachdem die Opferanwältin von Sophie D. Einspruch beim Obergericht einlegte, ordnete dieses jedoch an, dass Anklage erhoben werden muss.
Einige sexuelle Handlungen mit Sophie D., die der Beschuldigte bei der Polizei gestanden hatte, wurden nicht in die Anklageschrift aufgenommen. Nach einem weiteren Einspruch musste die Staatsanwaltschaft teilweise nachbessern und auf Anweisung des Bezirksgerichts Dielsdorf die Anklage ausweiten.
Die abweichende Rechtsauffassung sei «Ausdruck eines funktionierenden Rechtsstaates», teilte die Staatsanwaltschaft auf Anfrage mit. Weitere Fragen, etwa warum sie das von der Polizei beschlagnahmte Handy des Beizers trotz mehrerer Anträge nicht durchsuchen liess, beantwortete ein Sprecher nicht.
Richter: «Die fehlende Bleibe hat ihm in die Hände gespielt»
Der Einzelrichter sprach Jeevan F. schliesslich von den Vorwürfen frei, ihre Notlage ausgenutzt und gegen Entgelt Sex mit einer Minderjährigen gehabt zu haben. Zwar habe dem Beschuldigten die «fehlende Bleibe der Geschädigten in die Hände gespielt – das liegt auf der Hand», sagte der Richter. Dennoch würden für ihn zu wenig Indizien für einen direkten Zusammenhang zwischen Notlage und Sex vorliegen.
Zwar ist für den Richter unstrittig, dass Geld nach dem Geschlechtsverkehr übergeben wurde. «Allerdings gibt es in den Akten keinen Hinweis darauf, dass der Beschuldigte zuvor Geld für Sex in Aussicht gestellt hatte.»
Tätigkeitsverbot, aber keine Landesverweisung
Zu einem Schuldspruch kam es jedoch beim Vorwurf der mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind. «Sie hätten auf dem Vorzeigen eines Ausweises beharren und bis dahin mit dem Sex warten sollen«, sagte der Richter in seiner Urteilsbegründung.
Er verurteilte Jeevan F. – nicht rechtskräftig – zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 11 Monaten bei einer Probezeit von drei Jahren. Zudem darf der Beizer lebenslänglich nicht mit Minderjährigen zusammenarbeiten und muss Sophie D. 5000 Franken Genugtuung bezahlen. Von der beantragten Landesverweisung sah das Gericht ab.
Desillusioniert vom Urteil und vom Strafverfahren zeigt sich die inzwischen 16-jährige Sophie D. «Ich bin enttäuscht, der Täter wurde zu milde bestraft», sagt sie dieser Redaktion. Von der Staatsanwältin habe sie sich nicht ernst genommen gefühlt. «Ich bekam das Gefühl, nicht Opfer, sondern Täterin zu sein.»
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