Sterbehilfe-Pionier Ludwig Minelli Man nannte ihn «Dr. Tod»
Ludwig Minelli wurde bekämpft, beschimpft und gemieden. Heute sind seine Kritiker verstummt, das Bundesgericht hat ihn erneut bestätigt. Doch der 91-Jährige hat noch nicht genug.
Vor einem Jahr bekam er Herzprobleme. Das schränkt ihn ein, er ist jetzt kurzatmig, Treppensteigen funktioniert nicht mehr so gut. Aber Ludwig Minelli bleibt positiv. «Das gibt mir die Chance auf einen plötzlichen Herztod», sagt er.
Minelli ist der berühmteste Sterbehelfer der Schweiz. Diesen Titel lehnt er jedoch ab, er sei «zu unpräzis». Er sei selber nicht dabei, wenn jemand beim Sterben begleitet werde. «Das mache ich nicht.» Und wie der Name «Dignitas – menschenwürdig leben, menschenwürdig sterben» sage, gehe es bei seinem Verein zuerst ums Leben, sagt Gründer und Generalsekretär Minelli. Viele Sterbewillige würden von Dignitas so beraten, dass sie sich umentschieden und weiterleben wollten, betont er.
Als Pionier engagierte sich Minelli für die Suizidhilfe, als das Thema noch tabu war – und auf breiten Widerstand stiess. Ende der Neunzigerjahre kam es auch bei Exit, deren Rechtskonsulent Anwalt Minelli gewesen war, zum Richtungsstreit, der in einer turbulenten Generalversammlung im Zürcher Kongresshaus gipfelte. Die Auseinandersetzung verlief zwischen der alten und der neuen Garde, freihändige Suizidhilfe versus Prävention, Gutachten und ärztliche Begleitung. Minelli gehörte der neuen Generation an, die unterlag und sich von Exit abspaltete. Noch in derselben Nacht formulierte er die Statuten für den neuen Verein Dignitas.
Jahre des Widerstands
Es folgten Jahre des Widerstands. Minelli wurde das Gesicht des Vereins und zur Zielscheibe, wurde beschimpft, geschmäht und gemieden. In den Zeitungen nannte man ihn «Dr. Tod», während Jahren schossen sich Staatsanwälte, Kirchenvertreter und Medien auf ihn ein. Es war die Rede von Sterbetourismus, weil Ausländer bei Dignitas in der Schweiz Suizidhilfe in Anspruch nahmen. Minelli mache den Suizid zum Geschäftsmodell und nutze die Not der Menschen für Geld aus, hiess es. Einmal stand er auch vor Gericht, verurteilt wurde er nicht.
Heute sind die Kritiker verstummt, und das Bundesgericht gibt Minelli ein ums andere Mal recht. Den neusten Meilenstein erreichte er Mitte März – diesmal ohne sein eigenes Zutun –, als das höchste Gericht Suizidhilfe auch für gesunde Menschen erlaubte. Es sprach einen Genfer Arzt frei, der 2017 einer 86-jährigen Frau beim Suizid geholfen hatte.
Bis heute gilt für Ärzte, dass sie das tödliche Medikament nur jemandem verschreiben dürfen, der unheilbar krank ist oder unerträglich leidet. So hat es die schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften definiert, und die Ärztevereinigung FMH schreibt dies ihren Mitgliedern vor. Im Genfer Fall hatte die Frau keine unheilbare Krankheit – sie wollte nur nicht länger leben als ihr Partner. Das Bundesgerichtsurteil zwingt nun die Organisationen, ihre Richtlinien zu überdenken. «Es hätte mich sehr gewundert, wenn der Arzt schuldig gesprochen worden wäre», sagt Minelli. Und fügt trocken hinzu: «Das Urteil korrigiert einen grundlegenden Irrtum der Genfer Staatsanwaltschaft.»
Jedes Jahr mehr Sterbewillige
Ludwig A. Minelli – das A steht für Amadeus – lebt in seinem Haus auf der Forch oberhalb von Zürich. Klavier, Polstergruppe und Büchergestelle füllen das grosse Wohnzimmer. Er bietet Tee aus einer riesigen Thermoskanne an und sagt, er würde sich als «Tee-ologen» bezeichnen, «die einzige Theologie, die ich akzeptiere». Tatsächlich kam die schärfste Kritik an ihm stets aus dem Umfeld der Kirche. Das Volk hingegen habe sein Engagement immer befürwortet, das habe er gespürt und auch entsprechende Signale bekommen. Etwa von einem Oberrichter, der ihm am Rande einer Verhandlung zugeraunt habe: «Es ist im Fall gut, was Sie machen.» Die erste Barriere fiel 2006, als das Bundesgericht entschied, es gehöre zur persönlichen Freiheit, dass ein urteilsfähiger Mensch selber entscheiden dürfe, wann und wie er sterben wolle. Und 2011 wurden im Kanton Zürich zwei kantonale Volksinitiativen von EVP und EDU gegen die Sterbehilfe mit über 80 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt.
Suizidhilfe ist den Menschen offensichtlich ein Anliegen. Exit und Dignitas melden jedes Jahr mehr Sterbebegleitungen, derzeit sind es jährlich rund 1400 Menschen. Es muss eine Genugtuung sein für den Vorkämpfer Minelli, nach allem, was er sich einst anhören musste. Doch so wenig, wie ihn die Anfeindungen damals gebremst haben, so wenig triumphiert er heute. Die Kritik habe ihn nicht belastet, «ich brauche keinen Applaus», sagt er. Für ihn, den Juristen, gelte vielmehr der Grundsatz: «Ein Recht, für das man nicht kämpft, bleibt toter Buchstabe.»
Doch Minellis Mission geht über die Landesgrenzen hinaus, er will das Recht auf Sterbehilfe weltweit durchsetzen. Derzeit beteiligt sich Dignitas an einem Verfahren in Frankreich, als Nächstes ist das erzkatholische Polen an der Reihe. Minelli sucht einen lokalen Anwalt, der die Klage gegen den polnischen Staat formulieren kann. In Neuseeland und Australien wirkte Dignitas bei parlamentarischen Verfahren mit.
Die Nähe zum Tod, die Faszination für die Suizidhilfe – Minelli führt es auf ein Schlüsselerlebnis zurück. Mit 34 Jahren sass er am Sterbebett der Grossmutter. Diese bat den Arzt, er möge etwas machen, damit es schneller gehe. Das dürfe er nicht, sagte der Arzt, aber er werde dafür sorgen, dass es nicht noch länger dauere. Er verzichtete also bloss auf zusätzliche, lebenserhaltende Massnahmen. Der junge Minelli hat das nicht verstanden. «Es hat mich irritiert, dass der Arzt den Wunsch meiner Grossmutter nicht respektieren durfte.»
Trotzdem zeichnete sich sein Weg zum Sterbehelfer zu diesem Zeitpunkt noch nicht ab. Als Schüler wusste er nicht, was er werden wollte, «ich weiss es heute noch nicht», witzelt er. Nach der Handelsmatura wollte er in die Schauspielerei, wurde dann Journalist, «weil es mit der Schauspielerei nicht klappte, suchte ich mir eine andere Bühne». Rund 15 Jahre lang arbeitete er für namhafte Zeitungen, unter anderem als Schweiz-Korrespondent für den «Spiegel». Erst mit über 40 Jahren begann er das Studium der Rechtswissenschaften.
Kinder und Enkel dürften dabei sein, wenn er stirbt
Minelli scheint mit seinen 91 Jahren so aktiv wie eh und je, obwohl er nicht nur Herzprobleme hat, sondern auch an Schwerhörigkeit leidet. Deshalb ging er im März nicht zur Urteilsbesprechung ans Bundesgericht nach Lausanne. Schlafen geht er meistens nach Mitternacht, um 7 Uhr ist er wieder auf den Beinen. Und er schreibt seine Memoiren, ist bereits auf Seite 745, fertig sei das Werk noch lange nicht.
Auch in andere Themen vertieft er sich, kürzlich hat Minelli ein Buch geschrieben, einen dicken Wälzer zur Abschaffung des Schulgeldes im Kanton Zürich. «Falls irgendwann ein Trottel von einem Sparpolitiker auf die Idee kommt, es wieder einzuführen», sagt er. Das EGMR-Urteil zu den Klimaseniorinnen liest er noch am Tag des Urteilsspruchs, in der englischsprachigen Version.
Kann er sich Suizidhilfe auch für sich selber vorstellen? Minelli antwortet, ohne zu zögern: «Selbstverständlich.» Er erzählt von seinem Schwager, der nach Speiseröhren- und Hirntumor, nach mehrmonatiger Behandlung inklusive Operation, vor einigen Monaten gestorben ist. Minelli sagt: «In so einem Prozess würde ich wahrscheinlich relativ früh sagen: Jetzt höre ich auf.»
Wie das dann abliefe, weiss er jetzt schon. Es gäbe ein grosses Fest bei ihm zu Hause mit allen nächsten Angehörigen, den zwei Kindern und x Enkeln, sowie seinen besten Freunden. Ein solches Fest machen seine Partnerin und er jeden Herbst, «damit man sich nicht nur an den Beerdigungen sieht». Und wer möchte, dürfe danach bei ihm zu Hause dabei sein, wenn er sterbe.
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