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Schauspielerin Katja Riemann
Ihr Buch gibt einen neuen Einblick in die Welt der Flüchtlingslager

Die Schauspielerin Katja Riemann reiste für ihr Buch «Zeit der Zäune» an Orte der Flucht.
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So mancher Star spendet Geld, unterhält eine Stiftung. Bei Katja Riemann ist es mehr. Seit 25 Jahren investiert die prominente Schauspielerin und Unicef-Botschafterin einen grossen Teil ihrer Zeit in humanitäre Projekte, die etwa vergewaltigten Frauen im Kongo helfen oder gegen Mädchenbeschneidungen in Senegal ankämpfen.

Vor vier Jahren hat sie dazu das Buch «Jeder hat. Keiner darf» veröffentlicht. Es fiel in die Zeit der Corona-Beschränkungen, was seine Resonanz notgedrungen beeinträchtigte. Ihr Neues, «Zeit der Zäune», wird es leichter haben: Katja Riemann kann ihr Kapital – Prominenz – einsetzen, um über das Buch für ihr Anliegen zu werben: die Verbesserung der elenden Lage der Flüchtlinge.

Denn das ist diesmal das Thema. Symbol dafür sind die Zäune, die überall Flüchtlinge am Weiterkommen hindern. Zäune, die, wie Katja Riemann in streckenweise starker Metaphorik schreibt, wie Zähne in der Landschaft stehen, sich aber auch, ganz konkret, als zahnbewehrter Nato-Draht in die Körper derer frisst, die ihn überwinden wollen.

Für rechtspopulistische Parteien in Europa nehmen Flüchtlinge die Gestalt anonymer und bedrohlicher «Ströme» an, mit denen sie ihre Wählerschaft in Angst und Schrecken halten können. Katja Riemann bekämpft dieses Bild mit einem Perspektivenwechsel, wozu kommt sie schliesslich vom Film! Statt der Totale – wir sehen Flüchtlingslager in den Nachrichtensendungen immer von oben, im Drüberwegflug, als endlose Abfolge von Zelten – wählt sie die Naheinstellung, statt von oben die Augenhöhe, den Augenschein.

Riemann verhehlt nicht, wenn sie geschockt ist

Sie redet mit Menschen statt über sie. Ihre Qualitäten sind Aufmerksamkeit, Empathie, Interesse und Ausdauer. Sowie Selbstreflexion. Sie ist sich immer bewusst, dass sie eine Besucherin ist, die die Lager, in die sie geht, jederzeit verlassen kann, während ihre Gesprächspartner nicht wissen, wie lange sie dortbleiben müssen, im «Interim», dem Dazwischen, wohin sie weiter- oder ob sie zurückgeschickt werden.

Katja Riemann verhehlt nicht, wenn sie geschockt ist oder empört, auch nicht, wenn sie beschämt ist angesichts einer Einladung zum Abendessen von Flüchtlingen, die selbst alles verloren haben. Immer wieder wählt sie saloppe, fast rotzige Einwürfe, um Distanz zu schaffen zur eigenen Emotion. Distanz zum konkreten Erleben schaffen auch verallgemeinernde Gespräche mit Experten, Soziologen, Juristen, schaffen Zahlen, Paragrafen.

Katja Riemann ist diesmal nicht «embedded» unterwegs, nicht im Schlepptau von Organisationen, sondern allein, allerdings immer im Kontakt mit NGOs oder kleinen Helfergruppen vor Ort. Wir folgen ihr nach Moria, dem berüchtigten Lager auf Lesbos, nach Lipa in Bosnien, nach Kurdistan, nach Marokko an die Grenze zu den spanischen Enklaven, wo die höchsten und mörderischsten Zäune stehen. Immer wieder beeindruckt sie, wie sich die Menschen in der Zwischenzeit einrichten, aus Paletten und Plastikfolien Wohnlichkeit herstellen, Schulen organisieren.

Wir lernen mit der Autorin neue Wörter: «Dschungel» sind ungeregelte Aufenthaltsorte jenseits der Lager, im Wald oder in verlassenen Fabriken. «Game» nennen Flüchtlinge die Versuche, die Grenze zu überwinden. «Distribution» bedeutet die Verteilung von Decken, Medikamenten und Nahrungsmitteln durch Helfer an mittellose Flüchtlinge, vielfach nachts und heimlich, weil diese Hilfe oft kriminalisiert wird. Katja Riemann ist bei solchen Touren dabei; sie erlebt, dass Flüchtlinge einander bestehlen oder gar attackieren. Es gibt eine Rang-, eine Hackordnung des Elends.

Das Buch zeigt die unbarmherzigen Seiten Europas

«Zeit der Zäune» ist ein Mosaik, einzelnen Schicksalen begegnen wir wieder. Sie haben oft, das liegt bei der Filmschauspielerin Riemann nahe, mit Kunst zu tun. Da sind Douglas und Sonia, die auf Lesbos eine Filmschule gegründet haben und diese, als das Lager abbrennt, nach Athen, schliesslich nach Krakau verlagern.

Und da ist Yaser, ein junger Afghane, der unter den Taliban so Schreckliches erlebt hat, dass Katja Riemann es uns erspart. Er studiert an dieser Filmschule, dreht später einen Kurzfilm (notabene grossenteils in Riemanns Berliner Wohnung), wird damit an einer Leipziger Akademie für Flüchtlinge aufgenommen und gewinnt in Brüssel einen Preis – und, wer weiss, ob aus ihm nicht einmal der afghanische Tarantino wird?

«Zeit der Zäune» hat zutiefst deprimierende Passagen, es zeigt die unbarmherzigen Seiten Europas, das sich mit Zähnen und Klauen und eben beissenden Zäunen abschirmt. Aber es gönnt den Lesern auch das eine oder andere Happy End. Das letzte Kapitel bietet sogar eine Hochzeit mit allem Drum und Dran in einer griechischen Bucht. Es könnte ein Filmfinale sein.

Am Montag, 25. März, ist Katja Riemann Gast im Kaufleuten Zürich.

Katja Riemann: Zeit der Zäune. Orte der Flucht. S. Fischer, 2024. 446 S., ca. 37 Fr.