Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Ferien in den USA
Sollte Las Vegas wieder öffnen – und was bliebe übrig?

«What happens in Vegas stays in Vegas» – ausser ansteckende Krankheiten: Ein Elvis-Double in Las Vegas ohne Zuschauer.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Es gibt nur zwei Reaktionen auf diesen einzigartigen Anblick, und sie könnten unterschiedlicher kaum sein: Wer von Los Angeles mit dem Auto nach Las Vegas fährt (nur Amateure fliegen in diese sündige Stadt), durchlebt vier Stunden Ödnis. Zwischen Barstow und Zzyzx gibt es ein 90 Kilometer langes Teilstück, das schnurgerade durch die Wüste führt. Es könnte langweiliger kaum sein; doch dann, man sollte immer kurz nach Sonnenuntergang in Vegas ankommen, ist in der Dunkelheit ein Lichterklecks zu sehen, der immer grösser wird und einen magisch anzieht.

Die eine Reaktion: völlige Begeisterung über diesen wahnwitzigen Ort in der Wüste. Die andere: absolute Verachtung für diese Stadt, die es niemals hätte geben dürfen.

Was in Vegas passiert

Und jetzt, während der Coronavirus-Pandemie und der vorsichtigen Lockerungen, wird einem so richtig vor Augen geführt, dass die Leute in Las Vegas vor allem das tun, was Menschen derzeit keinesfalls tun sollten. Sie feiern auf engstem Raum miteinander, auf Poolpartys halbnackt. Sie berühren Sachen wie Chips, Bargeld oder Knöpfe der Automaten, die davor Tausende andere Gäste angefasst haben. Sie trinken aus Gläsern, die alleine an diesem Tag Dutzende anderer Touristen benutzt haben. Und, auch das ist Teil von Vegas: Sie verbringen Nächte mit Fremden, die am nächsten Tag in eine andere Himmelsrichtung entschwinden.

«What happens in Vegas stays in Vegas», heisst es immer, doch Kenner haben diesen legendären Satz längst umgewandelt in: Was in Vegas passiert, das bleibt in Vegas – ausser ansteckenden Krankheiten, die nimmt man mit nach Hause.

Das führt in der aktuellen Lage zur Frage: Kann man, nein, darf man diese Stadt für Touristen freigeben? Auch im Wissen um das Risiko, dass Gäste das Coronavirus möglicherweise in zahlreiche Städte, ja Länder transportieren könnten?

Trump im Vergleich zu Goodman ein vernünftiger Politiker

Ja, sagen die Verantwortlichen, und sie haben dafür sogar einen Werbespot produziert, der nun landesweit gezeigt wird. «Reimagined» heisst der 30-Sekunden-Film, es sind zunächst einmal die typischen Vegas-Bilder zu sehen: die Wasserfontänen vor dem Bellagio, das Riesenrad vor dem Linq, die Kanäle im Venetian. «Ein neues Vegas für eine neue Realität», ist dann zu hören, ein junges Paar schwimmt alleine im Pool, spaziert alleine vor den Fontänen, wandert alleine im nahe gelegenen Grand Canyon: «Wer schon immer von einem Las Vegas nur für sich geträumt hat: Es ist hier. Die Dinge werden ein bisschen anders sein als früher.»

Las Vegas’ Bürgermeisterin Carolyn Goodman.

Derzeit sind einzelne Restaurants wieder geöffnet, aber keine Nachtclubs, Hotels und Casinos. Die frühesten Reservierungen sind vom 29. Mai an möglich, Anfang Juni soll es endlich wieder so richtig losgehen, mit ein paar Einschränkungen.

In den Casinos soll nur noch die Hälfte der Leute erlaubt sein, an Blackjack-Tischen also drei statt wie üblich sechs Spieler und keine Zuschauer dahinter. Croupiers tragen Handschuhe und bieten den Gästen nach jedem Spiel an, deren Hände zu desinfizieren. Überall sind Wände aus Plexiglas aufgestellt, zwischen den einarmigen Banditen etwa, von denen nur jeder zweite in Betrieb sein soll. Die Buffets, diese einzigartigen Völlereien in jedem Hotel, soll es erst einmal nicht mehr geben.

Aufmachen um jeden Preis

Es klingt recht einfach, und genau das ist das Ziel von Bürgermeisterin Carolyn Goodman. Sie würde am liebsten sämtliche Lichter dieser Stadt sofort wieder einschalten, ohne die störenden Restriktionen, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass US-Präsident Donald Trump im Vergleich zu Goodman wie ein vorsichtiger und gar vernünftiger Politiker daherkommt.

Vor drei Wochen trat Goodman beim TV-Sender CNN auf und sinnierte darüber, dass Las Vegas doch eine Art Versuchslabor sein könne, ob das mit dem Abstandhalten tatsächlich funktioniere: «Woher sollen wir das wissen, wenn es keinen Vergleich gibt?»

Aufmachen um jeden Preis, das ist das Motto von Goodman, 81. Sie ist seit neun Jahren Bürgermeisterin, Vorgänger in den zwölf Jahren davor: Ehemann Oscar, der vor der politischen Karriere zwielichtige, aber mächtige Leute wie Tony Spilotro oder Frank Rosenthal betreut hatte – seine Autobiografie heisst übersetzt: vom Mafia-Anwalt zum Bürgermeister.

«Geh zurück in die Arbeit – oder stirb beim Versuch.»

Die Goodmans gehören keiner Partei an, viele ihrer Entscheidungen basieren darauf, diesen Lichterklecks in der Wüste noch ein bisschen heller strahlen zu lassen. Es heisst, dass sie sich lieber um die Besitzer der mehr als 400 Casinos kümmern und weniger um die zahlreichen Leute, die dort arbeiten.

Die Leute, die dort arbeiten, wehren sich nun: An der Wand des Majestic Repertory Theatre im Stadtzentrum gibt es ein überlebensgrosses Gemälde der beiden, seit ein paar Tagen sind ihre Gesichter mit Masken überdeckt. Auf denen steht, was die Leute glauben, dass die Bürgermeisterin von ihnen will: «Geh zurück in die Arbeit – oder stirb beim Versuch.»

Wer sich von den beiden Disneyland-für-Erwachsene-Bereichen Downtown und Strip entfernt (was kein Touristen tun sollte), der sieht: In Las Vegas leben nicht nur Zauberer, Sänger und Tänzer, sondern auch Putzleute, Servicepersonal, Techniker.

Verschworene Gemeinschaft, keine Versuchskaninchen

Sie halten diese Stadt am Laufen, und sie kümmern sich rührend umeinander; es heisst, dass jemand aufgrund der Gefälligkeiten untereinander (kostenlose Tickets, Drinks, Zugang zu den Buffets) ohne Geld überleben könnte.

Es ist eine verschworene Gemeinschaft, die nicht als Versuchskaninchen am Experiment von Goodman teilnehmen will. «Natürlich kann ich die Chips sterilisieren, sie sind danach wie neu», sagt Clay Dubois, Chef und einziger Mitarbeiter des Chip-Reinigers Elite Chip Care: «Wenn jedoch danach jemand darauf niest, sind sie wieder verunreinigt.»

Der Pokerprofi Doug Polk will deshalb ein Amtsenthebungsverfahren gegen Goodman einleiten, er sammelt derzeit Unterschriften. Knapp 7000 braucht er, nicht wirklich viel, doch müssen die mit Füller auf Papier geschrieben sein.

Profizocker legt sich mit Bürgermeisterin an

Polk tritt nun überall auf, um für seine Initiative zu werben, und natürlich ist das eine Geschichte, wie sie nur in Las Vegas passieren kann: Profizocker legt sich mit der Bürgermeisterin an, die mit jenem Anwalt verheiratet ist, der sich im Film «Casino» selbst gespielt und im wahren Leben die Bösewichter verteidigt hat, die von Joe Pesci und Robert De Niro dargestellt werden. Das ist das alte Las Vegas, das die einen begeistert und alle anderen abstösst.

Nur: Genau da liegt das Problem der Wiedereröffnung dieser Stadt. Wie viel wird übrig sein von Las Vegas?

Einwohner, die seit ihrer Geburt dort leben, erzählen nun, dass sie ihre Stadt nur ein Mal so verlassen, so deprimiert erlebt haben: am Tag nach dem Massaker 2017, bei dem 59 Menschen gestorben sind. Damals ging es schon am Abend danach weiter, als wäre nichts gewesen. Das wird womöglich jetzt nicht funktionieren, weil alleine im Pool schwimmen, alleine wandern – das kann man auch woanders.

Jede Plexiglaswand, jedes Desinfektionsmittel, jeder sterilisierte Chip ist ja im Prinzip Erinnerung daran, dass die Krise noch längst nicht überstanden und dass eine richtige Las-Vegas-Party noch nicht möglich ist.

Die meisten Leute kommen aber nicht nach Las Vegas, um erinnert zu werden. Sie kommen dorthin, um zu vergessen.