Der bunte Hund im Schweizer Ski-TeamEr fährt in pinken Slips und gab schon oft den Führerschein ab
Justin Murisier mischt gerade die Abfahrtselite auf. Der 32-Jährige schlafwandelt, startete auch schon als Dragqueen und sagt: «Ich war schon in der Schule ein Rebell.»
- Justin Murisier hat jüngst zum ersten Mal im Weltcup gewonnen.
- Im Team sorgt er für gute Stimmung und lacht viel.
- Es ist ihm zuwider, immer nur über Marco Odermatt zu reden.
Es ist in Wengen im letzten Winter. Justin Murisier kommt von einer Fragerunde mit Journalisten – und schüttelt den Kopf. «Ich habe es allmählich satt, immer über Marco zu reden.» Viel lieber als über Odermatt, den Überflieger, würde er auch einmal über sich reden, über seine Leistungen, die ja auch ganz ansprechend seien.
Es ist Mittwochabend in Gröden. Murisier sitzt auf einem Sessel im Teamhotel der Schweizer. Und ja: Es geht jetzt um ihn, weil er zuletzt Fabelhaftes geleistet hat. Er hat zum ersten Mal gewonnen im Weltcup, mit 32, und das in der Abfahrt von Beaver Creek. Es ist eine kleine Sensation. Jahrelang ist der Cousin des einstigen Spitzenabfahrers William Besse auf Slalom- und Riesenslalompisten unterwegs, die Tempobolzerei entdeckt er erst vor drei Jahren so richtig. Jetzt steht er zuoberst.
Zuerst ist Murisier wichtig, klarzustellen, dass er nicht eifersüchtig sei auf Odermatt, schliesslich sind die beiden gute Freunde. «Aber für mich ist es schwierig, zu akzeptieren, dass ich nur zu ihm gefragt werde. Das Scheinwerferlicht ist nur auf ihn gerichtet – wir anderen sehen da manchmal aus wie Clowns. Dabei kämpfen wir doch in der gleichen Kategorie, auch wenn er oft schneller ist.»
An diesem für Murisier so wunderbaren Freitag vor zwei Wochen ist er es, der schneller ist. Schneller als alle anderen Abfahrer. Und darum: Scheinwerfer an für den Mann, von dem die Trainer in jungen Jahren so geschwärmt haben – und dessen Körper dann nicht mitspielte.
Als Murisier zwei Winter in Folge verpasst
Wegen Verletzungen verpasst er Rennen um Rennen, da ist Murisier im Weltcup noch gar nicht richtig angekommen. 2011/12 und 2012/13 fehlt er zwei Winter in Folge. Dreimal reisst das Kreuzband im rechten Knie, das letzte Mal in der Vorbereitung 2018; er erleidet einen Knorpelschaden, eine Meniskusverletzung, Murisier hat nur schon Schmerzen, wenn er aus dem Auto steigt oder vom Tisch aufsteht.
Im vergangenen Sommer wird sein rechtes Knie zum fünften Mal operiert. Im Training in Beaver Creek kugelt ihm die Schulter aus. Zwei Tage später gelingt ihm der grosse Coup. Das ist seine turbulente Geschichte in Kurzform.
Doch wer ist dieser Mann, der endlich dort steht, wo ihn so viele längst gesehen haben?
Murisier gilt als der bunte Hund im Schweizer Team und ist ein kleiner Rebell. Wer das nicht längst wusste, stellte es während der Coronazeit fest, als der Unterwalliser mit seinen Masken auffiel, auf denen ziemlich schräge Fratzen mit fehlenden Zähnen lächelten. Es war seine Art des Protests. Eigentlich hatte er Masken mit Logos seiner Sponsoren bedrucken lassen. Der Weltverband FIS verbot ihm, diese zu tragen.
Murisier kämpft seit Jahren dafür, dass sich die Fahrer freier vermarkten dürfen. Am Mittwochabend im Hotel in Südtirol sagt er: «Ich will mich nicht beschweren, weil wir von unserem Sport leben können. Aber ich würde nicht Nein sagen, wenn wir mehr verdienen würden. Wir riskieren unser Leben und investieren unseren Körper.» 47’000 Franken gab es für seinen Triumph in Beaver Creek. Die Kurve des Preisgeldes zeigt im Ski schnell nach unten, der Dreissigste bekommt noch 700 Franken. Murisier weiss nur zu gut, wie es ist, mit solchen Beträgen zu haushalten.
Im Januar 2010 erlebt er sein Debüt im Weltcup, fast 15 Jahre später erst steht er zuoberst. Vor den Rennen in Gröden führt er deshalb die Abfahrtswertung an. Odermatt hat ihm die rote Startnummer in Beaver Creek überreicht. Abgestützt auf einem Knie, als würde der König seine Krone dem Nachfolger weitergeben. Es sind solche Bilder, die zeigen, wie gut die Ambiance ist im Team um Odermatt, Gino Caviezel oder Thomas Tumler. Für diese ist Murisier massgeblich zuständig.
Immer hat er einen Spruch bereit, witzelt, foppt. «Ich mag es, wenn die Stimmung locker ist», sagt er. «Wir sind so viele Tage im Jahr zusammen unterwegs. Dass wir viel lachen, ist für mich wichtig, schliesslich leben wir nur einmal.» Und gelacht haben seine Teamkollegen schon oft mit Murisier. Oder über ihn.
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Murisier ist Schlafwandler. Einmal wacht er in Saalbach splitternackt im Gang des Hotels auf – immerhin liess er die Zimmertür offen. Als er mal mit Daniel Yule im Zimmer liegt, träumt er, auf einem untergehenden Schiff zu stehen. Er will seinen Compagnon retten und reisst an seinem Bein. Murisier schmunzelt, als er das erzählt.
Didier Défago macht ihn zum Slipträger
Ah ja, und eine Macke hat er auch. Vor einem Rennen muss er alles erst mit links machen, erst in den linken Skischuh, in den linken Ski, den linken Handschuh, den linken Stock. Und noch etwas hat er sich angeeignet: Murisier trägt unter dem Rennanzug nicht Boxershorts, sondern einen engen Slip, die Kollegen haben ihn schon oft hochgenommen deswegen.
2018 ist er mit Spitzenabfahrer Didier Défago im Zimmer. «Ich habe meine breiten Unterhosen getragen und er Slips.» Défago sagt: «Es ist viel besser mit engen Unterhosen.» Murisier probiert es aus und stellt fest, dass es keine Wülste mehr gibt an der Seite. Die Slalomfahrer Marc Rochat und Luca Aerni schenken ihm einen pinken Slip. Natürlich trägt ihn Murisier. Gerade die Vorstellung, sich als waghalsiger Abfahrer in dieser Unterwäsche die Pisten hinunterzustürzen, gefällt ihm.
Dazu passt, dass er sich mit Yule als Dragqueen verkleidet und bei einem Spass-Slalom, organisiert vom Franzosen Julien Lizeroux, teilnimmt. Wenn er etwas machen wolle, dann tue er das, sagt Murisier. Da ist ihm auch egal, was die Leute im kleinen Dorf Bruson im Val de Bagnes denken, wo er wohnt. Er sei schon in der Schule ein Rebell gewesen, sagt er. «Es war nicht einfach mit mir. Wenn es hiess: ‹Nein, das machst du nicht!›, dann machte ich es.»
Murisier sucht auch Abseits der Skipisten den Temporausch, mit seinem Motocross-Töff heizt er über eine Piste, die er mit Kollegen angelegt hat. Doch auch im Auto drückt er aufs Gas, stolz darauf ist er nicht. Drei- oder viermal habe er den Führerschein abgeben müssen.
In Murisier scheint noch immer ein kleiner Bub zu schlummern, er blitzt in seinen Erzählungen und seinem verschmitzten Lächeln immer wieder auf. Er hat sich die Kindlichkeit bewahrt, trotz aller Tiefen. Und jetzt endlich wird er belohnt. Mit 32.
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