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Meinung

Essay zu Rassismus-Debatte
Sind das alles bloss Mimosen?

Alles nett und harmlos auf dem Gurten? Leider nicht. 
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Und wieder einmal werden grosse Fragen diskutiert: Wann ist übergriffiges Verhalten rassistisch? Wann bloss eine Bagatelle? Und wer bestimmt das? In der Diskussion zeigt sich, wie erschreckend verhärtet die Fronten sind und wie schwammig dieser Begriff «Rassismus» im Grunde ist. 

Was also ist geschehen? Es begann alles ganz nett und harmlos: Am Gurtenfestival hatte das Publikum die Wahl, das Depot der Mehrwegbecher entweder zu spenden oder ins nächste Getränk zu investieren. Dafür gab es – wie an grösseren Festivals üblich – ein Team, das der etwas undankbaren Aufgabe nachging, die Besucherinnen und Besucher zu fragen, ob man die Becher gerne dem guten Zweck stiften möchte. Die Einnahmen dieser Spenden kamen heuer dem Café Révolution zu, einem Begegnungsraum, in dem sich People of Color zum Thema Rassismus austauschen können, wo Lesungen oder Diskussionen stattfinden.

Der Ton, der in den Diskussionen herrscht, ist quasi der Soundtrack des schwelenden Argwohns gegenüber dem «Anderen» in diesem Land.

Dann war auf einmal Schluss mit nett und harmlos: Etwa in der Hälfte des Festivals beschlossen die Frauen, die den Stand betrieben hatten, den Gurten zu verlassen. In einem Statement gaben sie als Grund an, dass «das Ausmass der Gewalt und des Rassismus», mit dem man konfrontiert gewesen sei, die Grenze von dem überstiegen habe, was man dem Team zumuten wollte. Auf mehrmaliges Nachfragen wollte das Kollektiv keine weiteren Erklärungen abgeben. 

Feindliche Stimmung

Aus dessen Umfeld war später zu erfahren, dass wiederholt das N-Wort gefallen sei, dass Becher vor die Füsse der Einsammlerinnen geworfen wurden, mit der Aufforderung, sie sollten sich die Spende verdienen. Es sind Teller gegen den Stand geflogen, und mindestens eine Person soll angespuckt worden sein. Beweisvideos gibt es von alldem keine. Es wurde auch keine Statistik geführt. Tatsache ist: Es muss eine Stimmung geherrscht haben, welche die Frauen dazu bewog, lieber auf Einnahmen des Standes zu verzichten, als länger an diesem Festival zu bleiben.

Als unsere Redaktion darüber berichtete und sich zunächst nur auf das Statement der Betroffenen berufen konnte, ging auch hier das Donnerwetter los. In der Kommentarspalte zum Artikel begann – neben durchaus vernünftigen Wortmeldungen – die Stimmung hochzukochen.

Zunehmende Enthemmung

Der Grundtenor in der Diskussion: Gegen Rassismus zu sein, sei eine linksextreme, politische Einstellung. Das seien alles Mimosen. Rassismus gäbe es bei uns nicht. Und wenn doch, seien die Betroffenen selber daran schuld. Herrschte auf der Redaktion zunächst die Haltung, das Café Révolution schade sich selber, wenn es seine Vorwürfe nicht weiter ausführe, kippte die Stimmung bald. In einem derartig feindlichen, gehässigen und polemischen Umfeld würden selbst wir niemandem raten, sich mit Gesicht und Namen zu exponieren. 

Vermutlich ist das, was auf dem Gurten geschehen ist, nichts, was gegen ein Anti-Rassismus-Gesetz verstösst. In der Summe gibt es aber eine Ahnung davon, in welch unangenehmem Kraftfeld man sich als Person anderer Hautfarbe in diesem Land immer noch bewegt. In einem Land notabene, in dem die grösste politische Partei gerade beschlossen hat, die Migration als Quell allen Übels zu definieren, und damit zusätzlich einer ausländerskeptischen Enthemmung Bahn brechen dürfte.

Vor zwei Jahren veröffentlichte der Bund eine Studie dazu, wie es in diesem Land um die Toleranz gegenüber Migrantinnen und Migranten steht. Die Erkenntnisse waren erschreckend: 41 Prozent der hiesigen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund fühlt sich durch Personen mit einer anderen Sprache, Staatsangehörigkeit, Religion oder Hautfarbe «gestört». In der Deutschschweiz trifft dies auf 37 Prozent der Gesamtbevölkerung zu. 

Der Ton, der in den Diskussionen herrscht, ist also quasi der Soundtrack des schwelenden Argwohns gegenüber dem «Anderen» in diesem Land. Darauf baut auch der strukturelle Rassismus, der von niemandem ernsthaft bestritten werden kann. Für die anderen, welche die Schweiz noch immer als Hafen der Toleranz und der Glückseligkeit betrachten, für die, die bereits am Abwinken sind, wenn das Thema Rassismus bloss angetönt wird –, hier noch mal im Klartext: Ja, die Schweiz hat ein Rassismusproblem, weil hier Menschen wegen ihrer Herkunft, wegen ihres Aussehens oder auch schon nur wegen ihres Namens nicht nur von vielen als «störend» empfunden werden, sondern auch tagtäglich Nachteile erfahren. Sei es im Job, bei der Wohnungssuche, vor dem Türsteher, in der Polizeikontrolle und so weiter und so fort. 

Rückzug in die Bubble? Das käme genau der Idee der wahren Rassisten entgegen: «Jeder für sich, jeder in seiner Kultur, jeder in seiner Gesellschaft.»

Ich bin seit bald 20 Jahren mit einer afrobrasilianischen Frau verheiratet, die kein grosser Fan ist von sogenannten Safer Spaces für People of Color. Man erreiche nichts, wenn man sich in seine Bubble zurückziehe, sagt sie immer. Wenn man Verständnis, Offenheit oder schon nur Sichtbarkeit für andere kulturelle Hintergründe schaffen wolle, dann müsse man die Leute damit konfrontieren.

Vorurteile würden sich nicht verflüchtigen, wenn man den Rückzug der Begegnung vorziehe. Nur die Konfrontation mit dem Neuen und Anderen führe auf die Dauer zu einem Gewöhnungseffekt. In letzter Zeit hat sie diese Meinung in Teilen revidiert. In einem Klima, in dem niedergeschrien wird, wer den kulturellen Pluralismus, den Respekt vor den «Andersartigen» auch nur anspreche, verstehe sie alle, die sich dem nicht mehr aussetzen möchten. 

Und jenen, welche den Menschen anderer Hautfarbe eine Übersensibilität attestieren, entgegnet sie, dass es durchaus ermüdend und belastend sei, dem oben beschriebenen schwelenden Argwohn ständig zu begegnen, sich ständig fremd zu fühlen in einem Land, in dem man doch eigentlich Heimatgefühle entwickeln möchte.

Bloss eine Auslegungssache?

Doch wo beginnt er nun, dieser Rassismus? Ist er eine Auslegungssache, sofern er nicht unter die Diskriminierungsstrafnorm fällt? Ist die Heftigkeit, wie man – meinetwegen auch nur unterschwellige – Fremdenfeindlichkeit empfindet, eben doch eine Frage der Sensibilität? Natürlich ist sie das. Wer sein Leben lang wegen seiner Hautfarbe drangsaliert oder benachteiligt wurde, wird eine abfällige Bemerkung anders auffassen als jemand, dem seit jeher eine so wünschenswerte Young-Black-and-Proud-Attitüde eingeimpft wurde. Jemand, der hier geboren wurde, wird die Frage nach seiner Herkunft anders auffassen als jemand, der erst kürzlich in dieses Land eingewandert ist. 

Auf diese unterschiedlichen Empfindlichkeiten gilt es einzugehen, was die Sache nicht unbedingt unkomplizierter macht. Aber wenn ein Kollektiv seinen Stand an einem Festival abbricht, weil es die Stimmung als feindlich wahrnimmt, kann man das akzeptieren und als Denkanstoss nützen, ohne einen Rapport aller Verfehlungen einzufordern oder die psychische Robustheit der Beteiligten zu hinterfragen. Das Café Révolution hat weder den Abbruch des Gurtenfestivals gefordert noch eine Anzeige erstattet. Es hat auf die feindliche Stimmung hingewiesen, einen respektvollen Umgang erbeten und aufgefordert, Denkmuster zu hinterfragen. Mehr ist da nicht. Dass dies reicht, um eine dermassen hysterische Debatte auszulösen, spricht für sich.  

Gibt es Lösungsvorschläge?

Doch wie um Himmels willen könnte man die Situation entspannen? Wie lässt sich dieser Diskussion die Schrillheit nehmen? Ein Angebot stammt von meiner Frau: Vielleicht würde es helfen, sagt sie, zunächst einmal zu akzeptieren, dass es in der Schweiz, wie in jedem anderen Land auch, ein Rassismusproblem gibt. Das sei die Grundvoraussetzung, damit die systemischen Benachteiligungen angegangen werden können. Dann: Hinterfragen wir unser eigenes Verhalten und unsere Vorurteile gegenüber dem Fremden. Und – ganz wichtig – schärfen wir unsere Neugier ihm gegenüber! 

Und auf der anderen Seite des offensichtlichen Grabens? Ich zitiere wieder meine Gemahlin: Schwingen wir nicht gleich bei jedem Anfangsverdacht die Rassismus-Keule! Die ständige Frage nach der Herkunft beispielsweise möge mühsam sein und einem ein Gefühl des Fremdseins vermitteln. Doch sie entstamme nicht einer bösartigen Fremdenfeindlichkeit und sei schon gar nicht Ausdruck eines rassistischen Unterdrückungssystems. Sie entspringe in den allermeisten Fällen bloss einem Interesse für das Gegenüber. 

Dieses Verzetteln der Kräfte, dieser Energieablass auf Nebenschauplätzen verhindere nicht nur eine gegenseitige Annäherung, sondern auch den Diskurs über die fundamentalen Rassismus-Probleme. 
Das klingt wie in der Sonntagsschule? Mag sein. Doch wo sind die Alternativen? Der Rückzug in die Bubble mag im Moment geboten sein, auf die Dauer ist er eben doch keine Lösung. Weil er genau der Idee der wahren Rassisten entgegenkommt: «Jeder für sich, jeder in seiner Kultur, jeder in seiner Gesellschaft.» Das kriegen wir besser hin!