Die ersten AmerikanerSie wehrten sich gegen die kulturelle Auslöschung
Um 1900 war die Welt der Natives in den USA zerstört. Wie sie sich im 20. Jahrhundert zurückkämpften, davon erzählt das neue Buch des Schweizer Historikers Aram Mattioli.
Sie kamen im Morgengrauen in drei Booten. 89 amerikanische Natives landeten im November 1969 auf der Gefängnisinsel Alcatraz vor San Francisco. Das Gefängnis war damals seit sechs Jahren stillgelegt. Die Natives waren unbewaffnet und planten eine schelmische Aktion, um der US-Regierung den Spiegel vorzuhalten. Alcatraz sei ab sofort ihr Land, proklamierte die Gruppe und berief sich dabei auf einen Passus im spätmittelalterlichen Entdeckerrecht Europas, wonach einem gehöre, was man entdecke. Mit Vermerk auf dieses Recht hatten die spanischen, portugiesischen, französischen und britischen Siedler den Vorfahren der Natives das Land gestohlen.
Die 89 Männer, Frauen und Kinder richteten sich auf der ehemaligen Gefängnisinsel ein und wollten dort eine Universität für Native American Studies schaffen. 24 Dollar in Glasperlen und roter Kleidung boten sie den Behörden in einem weiteren Schritt für Alcatraz, so viel habe der weisse Mann vor 300 Jahren für eine ähnliche Insel gezahlt. Für ihre Protestaktion wählten die Aktivisten einen günstigen Moment, denn in den USA kochte zu jener Zeit der Widerstand gegen den Vietnamkrieg hoch, und es gab «eine nie da gewesene Sympathiewelle» für die Indigenen.
So schreibt es der Schweizer Historiker Aram Mattioli, Professor an der Universität Luzern, in seinem neuen Buch «Zeiten der Auflehnung. Eine Geschichte des indigenen Widerstandes in den USA 1911–1992». Mattioli zeigt erstmals im deutschen Sprachraum, welch langer Weg es für die amerikanischen Indigenen war, bis sie mit Innenministerin Deb Haaland unter der Regierung Biden einen entscheidenden Posten besetzen konnten.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Lage für die knapp 600 indigenen Gruppen in den USA verzweifelt. Von den einst fünf bis sieben Millionen Menschen, die Nordamerika vor der Ankunft der Europäer besiedelt hatten, waren um 1900 noch 237’000 geblieben. Millionen waren wegen Krankheiten, Hunger, Vertreibung und der Gewalt der weissen Siedler gestorben.
Schlimme Zustände in den Internaten der Kirche
Doch was selten Thema ist: Die amerikanischen Natives kämpften sich im 20. Jahrhundert trotz der katastrophalen Ausgangslage mit verschiedenen Strategien zurück. «Es ist bemerkenswert, wie sie ihr eigenes Schicksal in die Hand nahmen», sagt Mattioli, «dabei waren die meisten politischen Aktionen wie die Alcatraz-Besetzung gewaltfrei.» Von diesem Widerstand erzählt der Historiker in seinem neuen Buch in faszinierenden Episoden. Mattiolis letztes Buch «Verlorene Welten» über die Geschichte der Natives von 1700 bis 1910 war 2017 ein «Spiegel»-Bestseller.
Viele indigene Kinder mussten um das Jahr 1900 in den USA und Kanada staatlich betriebene Internate besuchen. Dort versuchte man, sie «ihrem Herkunftsmilieu systematisch zu entfremden» und ihre Kultur durch die erzwungene Assimilation in weiten Strecken auszulöschen. «Es war eine Politik des versuchten Ethnozids», sagt Mattioli.
Psychische und körperliche Misshandlungen waren an der Tagesordnung, betrieben wurden die Internate meist von der Kirche. Innenministerin Haaland gab 2021 einen Untersuchungsbericht in Auftrag, er brachte verheerende Zustände ans Licht. Viele Kinder starben.
Die englische Sprache gab den jungen Natives aber ein neues Instrument, um sich gegen ihre Unterdrückung zu wehren. «Aus dem 20. Jahrhundert gibt es, im Gegensatz zu vorher, viele Selbstzeugnisse, auch aus der Literatur und der Musik», sagt Mattioli. Ausserdem begannen sich die Indigenen politisch zu engagieren.
Ein früher Aktivist war zum Beispiel der Crow Robert Yellowtail (1889–1988) aus Montana, der Jura studierte und gleichzeitig Rinder in der Reservation züchtete. Er setzte sich politisch für die Anliegen der Gruppe der Crow ein, trug kurze Haare, Anzug und Krawatte und war «typisch für eine entstehende Generation indigener Aktivisten und Aktivistinnen».
Im Kampf gegen Japan setzte die US-Armee auf Navajo-Funker, die in ihrer eigenen Sprache Botschaften verschickten, die niemand entschlüsseln konnte.
Im Zweiten Weltkrieg verweigerten viele Natives den Militärdienst. Andere wurden bekannt, weil sie wie die Navajos besondere Fähigkeiten einsetzten. Im Kampf gegen Japan setzte die US-Armee auf Navajo-Funker, die in ihrer eigenen Sprache Botschaften verschickten, die niemand entschlüsseln konnte. «Die mit dem Wind sprechen» nannten die Dinés, wie sich die Navajos heute nennen, diese Funker.
In der indigenen Kultur hatten Frauen in vielen Gruppen eine wichtige Rolle. Oftmals war es, anders als in Europa, der Mann, der bei der Heirat zur Familie der Frau zog. Trotzdem blieben uns vor allem Männer wie Sitting Bull oder Geronimo als wichtige Figuren aus dem Kampf gegen die weisse Herrschaft im Gedächtnis. Das hat viel damit zu tun, wie die Geschichte der Natives in Europa lange erzählt wurde. Der Begriff Häuptling war beispielsweise eine Erfindung der Kolonialmächte, viele indigene Gruppen waren demokratisch organisiert.
Bei der Besetzung von Mount Rushmore reagierte das FBI heftig
«Auch im 20. Jahrhundert spielten Frauen im Widerstand gegen die kulturelle Auslöschung eine wichtige Rolle», sagt Mattioli. Die Schweizer Historikerin Rachel Huber von der Uni Luzern hat zu diesem Thema geforscht und in ihrer Dissertation aufgezeigt, dass Red-Power-Aktivistinnen für den Erfolg des Widerstands massgeblich waren, aber selten Thema. Eine von ihnen war Madonna Thunder Hawk, heute 82. Sie nahm an der Alcatraz-Besetzung teil, gründete die Organisation «Women of all Red Nations» und koordinierte den Widerstand gegen die Dakota-Rohöl-Access-Pipeline.
Die Red-Power-Bewegung bildete sich im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen nach 1968. «Ihr Hauptziel war es, den Indigenen wieder ein selbstbestimmtes Überleben zu sichern», sagt Mattioli. 1970 besetzten Lakota das Mount Rushmore Memorial in South Dakota, das noch heute viele Touristen anzieht und eine schwierige Geschichte hat. Es zeigt vier Präsidenten und wurde in einen heiligen Berg der Lakota gesprengt. Einer der Präsidenten, Abraham Lincoln, war für eine Massenhinrichtung an den Lakota verantwortlich. Und der Bildhauer, der Mount Rushmore schuf, stand dem Ku-Klux-Klan nahe.
1972 folgte der «Trail of Broken Treaties», ein bis zu vier Meilen langer Protestzug durch die USA. Ein Jahr später besetzten Aktivisten die Stadt Wounded Knee in South Dakota. Dort hatten US-Soldaten 1890 fast 300 Lakota massakriert, unter ihnen viele Frauen und Kinder. Wounded Knee liegt in der Pine Ridge Reservation, einer der ärmsten Regionen des Landes. Anders als bei der Besetzung von Alcatraz reagierten die Behörden massiv mit FBI-Präsenz und Scharfschützen. Es kam zu Schusswechseln, Aktivisten und FBI-Agenten starben.
Trotzdem fällt die Bewertung des Ereignisses aus heutiger Sicht weitgehend positiv aus. Der «militante Widerstandsgeist» mache vielen bis heute Mut, «sich für indigene Anliegen zu engagieren», schreibt Mattioli.
Dazu gehört auch der Kampf gegen die Umweltausbeutung in den Reservaten. Ursprünglich teilte die Regierung den Natives möglichst unfruchtbare Böden zu. Doch in mehreren Gebieten stiess man dann auf Bodenschätze wie Uran, Öl oder Kohle. Im grossen Reservat der Navajo beispielsweise im Südwesten der USA starben über die Jahre Hunderte wegen fehlender Sicherheitsmassnahmen beim Uranabbau. 2005 schliesslich beschloss der Tribal Council der Navajo, jeglichen Abbau in Zukunft zu verbieten.
Im deutschsprachigen Raum wurden die Natives lange romantisiert
Vor allem im deutschsprachigen Raum wurden die Natives lange mit verfälschten Bildern romantisiert. Die im 19. Jahrhundert geschaffenen Geschichten hatten wenig mit der historischen Realität zu tun und viel mit der deutschen Romantik und ihrer Verklärung von sogenannt edlen Wilden. Viele wuchsen noch in den 1960er- und 1970er-Jahren mit Karl May oder den Silberpfeil-Comics auf.
Auch seine Faszination habe schon damals begonnen, sagt Mattioli, der vor seinen Studien zu den Natives vor allem den italienischen Faschismus erforschte. Doch schon in den 1970er-Jahren habe er mit dem bekannten Buch «Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses» des US-Autors Dee Brown eine andere Seite der Geschichte kennen gelernt.
Für seine aktuellen Forschungen bekam Mattioli von prominenter Seite Zuspruch. Earnie LaPointe, Urenkel von Sitting Bull, unterstützte ihn bei dem Buch. Voraussetzung sei, so LaPointe, dass Mattioli die Sicht der Natives in die Geschichte einfliessen lasse. Das ist sehr gut gelungen.
Aram Mattioli, Zeiten der Auflehnung, Klett-Cotta, Stuttgart 2023, 464 S., 39.90 CHF, erscheint am 18.2.
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