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Taliban erobern Provinzhauptstädte
«Sie sind noch brutaler als vor 20 Jahren»

Spezialkräfte des afghanischen Militärs kontrollieren die Strassen in Herat. Die Stadt im Westen des Landes wird von den Taliban belagert.
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Die Liste der Grausamkeiten ist lang. Von standrechtlichen Erschiessungen berichtet ein Mann. Von einem Drogensüchtigen, dem nach einem Diebstahl die Hand abgehackt worden sei. Ein anderer Augenzeuge berichtet, Frauen dürften nun nicht mehr allein vor die Tür, sie bräuchten einen männlichen Begleiter. Afghanistan im Jahr 2021: In den Gebieten, in denen sich die Taliban seit ihrem Vormarsch breitgemacht haben, ist offenbar die Zeit schon zurückgedreht worden.

Aus vielen Landesteilen berichten Zivilisten in Telefongesprächen und Textnachrichten von Kämpfen und heftigen Gefechten. Ein Mann berichtet aus der nördlich gelegenen Stadt Masar-i Scharif, dass umliegende Regionen bereits von den Taliban kontrolliert würden, dass auch immer wieder an den Aussengrenzen der Stadt gekämpft werde. Im Westen des Landes sind die Islamisten ebenfalls aktiv, etwa in der Herat-Provinz.

Die gleichnamige Provinzhauptstadt «ist belagert», wie ein Bauer von dort telefonisch berichtet. Wie alle Zivilisten besteht er aus Furcht vor Repressalien auf Anonymität. «Die Kämpfe haben die Ränder der Stadt und die umliegenden Bezirke erreicht. Nahezu alle Distrikte der Provinz sind bereits unter Kontrolle der Taliban», sagt der Bauer. «Sie verschonen das Leben von niemandem, der bei den Sicherheitskräften angestellt ist oder für die Regierung arbeitet.»

Zwar hält sich die Regierung von Präsident Aschraf Ghani in Kabul noch im Amt, aber die Taliban kontrollieren nach Berichten unabhängiger Analysten bereits mehr als die Hälfte des Landes. Am Wochenende nahmen sie vier Provinzhauptstädte ein: im Norden Kunduz, Schiberghan und Sar-i Pul und im Süden Sarandsch.

Zuletzt verlagerten sich die Kämpfe zunehmend in die Hauptstädte der 34 Provinzen. Ausserdem töteten sie einen engen Mitarbeiter von Präsident Ghani. Der Chefsprecher der Regierung, Dawa Chan Menapal, wurde laut Innenministerium beim Freitagsgebet umgebracht. Die Taliban sprachen von einer gezielten Strafaktion.

«Das Verhalten der Islamisten ist vollkommen inakzeptabel.»

Antony Blinken, US-Aussenminister

US-Aussenminister Antony Blinken äusserte sich vor ein paar Tagen erschüttert angesichts der Grausamkeiten, die von den Taliban ausgehen. Das Verhalten der Islamisten sei «zutiefst verstörend und vollkommen inakzeptabel».

Die afghanische Kommission für Menschenrechte schreibt in einem Bericht zur Lage in Teilen der Südprovinz Kandahar, die Taliban hätten gezielt nach Regierungsbeamten und Unterstützern der aktuellen Administration gesucht, sie aus ihren Häusern geholt und dann umgebracht.

Ein Geschäftsmann aus Laschkar Gah, der Hauptstadt der Helmand-Provinz, berichtet von anhaltenden Feuergefechten: «Die Kämpfe sind heftig, die Stadt ist komplett belagert», sagt er am Telefon. Nur noch ein kleiner Distrikt werde von den Regierungstruppen gehalten. «Die Taliban sind noch brutaler als vor 20 Jahren», sagt er.

Militärischer Druck aus dem Westen fehlt

Bisher haben die Islamisten seit ihrem landesweiten Vormarsch grosse Städte zwar unter Beschuss genommen, aber die afghanischen Sicherheitskräfte konnten sie immer wieder noch zurückschlagen. In Laschkar Gah ist das in diesen Tagen erstmals anders. Für den Sprecher des Verteidigungsministeriums in Kabul sind die jüngsten Landgewinne der Islamisten aber noch kein Grund zur Panik. «Vorstösse und Rückzüge sind in Kriegen ganz normal», sagt er. Die Taliban hätten aber nicht die Fähigkeit, die Gebiete zu halten.

Für den Westen sind die aktuellen Berichte dennoch der unangenehme Beleg für eine Mission, die ihre Ziele nicht erreicht hat. Schliesslich war die Koalition einst angetreten, um die Taliban zu stürzen, das von Kriegen und Kämpfen ausgezehrte Land zumindest auf niedrigem Niveau zu stabilisieren. Doch die USA haben unter der Regierung von Donald Trump im vergangenen Jahr während ihrer Friedensgespräche mit den Taliban die afghanische Regierung ausgeschlossen, um den eigenen Abzug schneller über die Bühne zu bekommen. Der Kabuler Regierung fehlt nun für ihre eigenen Bemühungen, mit den Taliban an den Verhandlungstisch zu kommen, weitgehend der militärische Druck des Westens.

Die Verhandlungen der USA haben nach Darstellung Kabuls die Taliban sogar gestärkt: Auf Druck Washingtons hat die afghanische Regierung mehr als 5000 Taliban-Gefangene aus der Haft entlassen. Was als Geste des guten Willens gemeint sein sollte, ist nun ein zusätzliches Problem für die afghanischen Sicherheitskräfte: Viele Ex-Häftlinge sind offenbar wieder zurück auf dem Schlachtfeld.

Vertriebene Familien suchen Schutz in einer Schule im Ghaziabad-Distrikt in der Provinz Kunar im Nordosten Afghanistans.

Zwar berichtet die Regierung von heftigen Verlusten auf Seite der Taliban, aber aus seiner Sicht «kommen einfach immer wieder neue Kämpfer nach», wie der Landwirt aus Herat berichtet. Ein Polizist, der mit seinen Kollegen die Stadt unweit der iranischen Grenze gegen die Taliban verteidigen soll, sieht die Moral der Sicherheitskräfte angesichts der permanenten Kämpfe aber dennoch als ungebrochen an. Die Zivilbevölkerung unterstütze Polizei und Armee gegen die Taliban, sagt er. Aus vielen Landesteilen ist zu hören, dass sich Bürgerwehren formieren, um den Sicherheitskräften beizustehen.

Ein Problem für die Moral der Polizisten und Soldaten ist aber nach wie vor die grassierende Korruption. Er habe die beiden letzten Monatsgehälter, zusammen umgerechnet 430 Franken, noch immer nicht bekommen, moniert der Polizist aus Herat. Zumindest funktioniere der Nachschub mit Munition und Verpflegung. «Ich glaube fest daran, dass die Sicherheitskräfte die Taliban besiegen werden», sagt der Polizist, schiebt dann aber noch ein «hoffentlich» hinterher.

Der Sprecher des Verteidigungsministeriums gibt sich deutlich optimistischer: Zahlreiche Gegenoffensiven der Regierungstruppen gegen die Taliban liefen bereits, auch Laschkar Gah werde bald wieder befreit sein. Der Geschäftsmann aus der umkämpften Stadt weiss zumindest genau, auf welcher Seite er steht: «Zwar steckt die Regierung knietief im Morast der Misswirtschaft», sagt er, «aber sie ist immer noch besser als die ignoranten Taliban, die nur Brutalität kennen.»