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Die Ärztin im Ring
Sie schaut bei jedem Treffer genau hin 

Die Ringärztin Tanja Grandinetti aus Lausen an einen Box-Anlass im Stadthofsaal in Uster. 

Der Ringsprecher erhebt seine Stimme. Ein Glissando schwingt durch den Saal, doch es kündigt nicht etwa den nächsten Boxer an. Vielmehr gilt es einer Person, die sonst nicht im Rampenlicht steht. Tanja Grandinetti, die Ringärztin an diesem Abend, eilt unter dem Applaus des Publikums zurück an den Ring. Die plötzliche Aufmerksamkeit ist ihr sichtlich unangenehm. Rasch nimmt sie wieder ihren Platz ein, in der neutralen Ecke, rechts neben dem Zeitnehmer mit dem Gong. Eben noch führte eine schwere Verletzung zu einem längeren Unterbruch. Nun, da die Ärztin die Behandlung des Boxers beendet hat und zurück in den Saal gekehrt ist, kann der nächste Kampf endlich beginnen.

Zum zweiten Mal überhaupt nimmt die 43-Jährige die Aufgaben der Ringärztin wahr. Sie gibt dem Boxsport damit eine neue Chance, war sie sich doch nach ihrem ersten Einsatz am Ring sicher: nie mehr wieder! Als Ärztin sieht sie bei einem Kampf mehr als nur gelungene Schlagkombinationen. Entsprechend prägend erlebte Grandinetti ihren ersten Boxanlass: «Damals in Thun war die mentale Anspannung riesig. Bei jedem schweren Treffer schossen mir so viele Gedanken durch den Kopf. ‹Der braucht vielleicht ein CT!› oder ‹Dieser Kampf muss abgebrochen werden!›.» 

Ein spezielles Arbeitsumfeld

Nachdem sie das Erlebte aber mit der nötigen Distanz neu bewertete, wurde ihr klar, dass sie ihren Entscheid, das Engagement im Boxsport nicht weiterzuführen, nur aus der Perspektive einer Ärztin gefällt hatte. Aber: «Ich bin ja nicht nur Ärztin, sondern auch jene Tanja, die eine grosse Faszination für den Kampfsport besitzt.» Und so änderte sie ihre Meinung, und als erneut eine Anfrage vom Boxverband reinkam, sagte sie zu.

So kommt es, dass Grandinettis Arbeitsort heute Abend keine Hausarztpraxis in Laufen oder Pfeffingen ist, auch nicht der Notfall des Universitätsspitals Basel und auch nicht eine sportmedizinische Einrichtung in Zürich, sondern der Stadthofsaal Uster. Die Luft riecht für einmal nicht nach Desinfektionsmittel, sondern nach Bier und Burger; es ist schweissig und stickig. Die Stille der Arztpraxis weicht dem Johlen und Anfeuern der Zuschauer, dem aufregten Schreien der Trainer, dem Ächzen der Boxer. Und Grandinettis Patienten kommen nicht etwa krank zu ihr, sondern verletzen sich vor ihren Augen.

Der etwas andere Arbeitsort für Tanja Grandinetti: Der prall gefüllte Stadthofsaal in Uster.

Was bewegt eine Ärztin dazu, sich an einen solchen Ort zu begeben? Wieso will man in seiner Freizeit und ohne nennenswerte Bezahlung Menschen helfen, die sich willentlich gegenseitig verletzen? Und zugespitzt gefragt: Ist es moralisch überhaupt angezeigt, als Arzt oder Ärztin durch das eigene Mitwirken die Durchführung von solchen Veranstaltungen überhaupt erst zu ermöglichen?

Grandinettis Arbeitstag in Uster beginnt nicht etwa mit dem ersten Boxkampf, sondern schon drei Stunden früher. Jeder Boxer muss, bevor er in den Ring steigen darf, ärztlich untersucht werden. Diese Checks dauern nur knapp zwei Minuten; es wird nach dem allgemeinen Wohlbefinden gefragt, das Herz abgehört, und es werden die Pupillenreflexe geprüft. Der Umgangston ist locker, vertraut, als würde man sich schon lange kennen. Es ist diese Form des Zwischenmenschlichen, diese Offenheit auch Unbekannten gegenüber, welche die Tochter von italienischen Einwanderern am Kampfsport so schätzt. Am meisten imponiert ihr jedoch der Respekt der Kämpfer untereinander: «Es ist eindrücklich und schön, wie sich die Gegner nach jedem noch so harten Fight umarmen», wird man sie am Ende des Abends sagen hören.

Respektieren sich auch nach dem Kampf noch: Rico «Ramba» Giger (l.) und sein unterlegener Gegner Martin Krsteski.

Für Aussenstehende mag es seltsam klingen, dass körperliches Versehren und tiefer Respekt so nahe beieinander liegen können. Für die ehemalige Kickboxerin Grandinetti hingegen macht genau dies die Schönheit des Kampfsports aus. Aber auch die physischen Komponenten faszinieren sie, die Schnelligkeit und Ausdauer, die Koordination und vor allem auch die Fähigkeit, für einen kurzen Augenblick alles aus sich rauszuholen.

Und doch gilt es für die Lausnerin auch an diesem Abend, schwierige Momente durchzustehen. Als im ersten von zehn Amateurduellen ein 13-jähriges Kind in den Ring steigt und in seinem Kampf ohne Chancen bleibt, weicht der sonst so aufgestellte Ausdruck in Grandinettis Gesicht einer tiefgreifenden Beklemmtheit. Als «sehr grenzwertig» beurteilt sie im Nachhinein diese Situation. Es ist klar, dass solche Bilder Empörung auslösen können. Und so erhält jede Ringärztin neben einem Beschrieb ihrer ärztlichen Aufgaben auch ein kurzes Argumentarium, wie man den Boxsport gegenüber kritischen Stimmen verteidigen kann.

Nicht das letzte Mal

Freilich sind kritische Stimmen an diesem Abend in Uster in der Minderheit. Die Amateurkämpfe neigen sich dem Ende zu, immer mehr Menschen strömen in die Halle und warten gespannt auf den Auftritt der Profis. Den Abschluss und das Highlight des Abends bildet der Einheimische und zweifache WBC-Junioren-Champion Ramadan Hiseni, welcher gegen den Spanier Jorge Vallejo in den Ring steigen wird. Die Stimmung wird immer besser, die Zuschauer lachen und rufen. Zwischen den Runden wird gefachsimpelt, mit Unbekannten gewitzelt, werden Anekdoten erzählt.

Dann, im zweitletzten Amateurkampf, passiert es: Der blaue Kämpfer geht plötzlich schreiend zu Boden, der ganze Raum verstummt, nur das anhaltende Schreien des Verletzten bricht die Stille. Grandinetti steigt sofort in den Ring, muss aber feststellen, dass sie nicht entscheidend helfen kann. Die Schulter ist ausgerenkt und kann nur mithilfe von Röntgenbildern und starken Schmerzmitteln wieder eingerenkt werden. Ein Tross begleitet den Boxer nach draussen, die Ambulanz kommt. Doch bis der Verletzte transportbereit ist, dauert es. Und im Saal beginnt das grosse Warten. Ohne Ringärztin, so nämlich die Regel, dürfen keine Kämpfe stattfinden.

Verfolgt die Kämpfe aus der neutralen Ecke, rechts neben dem Gong: Ringärztin Tanja Grandinetti. 

So schlimm dieser Moment für den Boxer ist, so sehr fühlt sich Grandinetti in solchen Notfallsituationen in ihrem Element. Denn: «Die Verletzungen, die man im Boxring behandelt, unterscheiden sich von jenen, die man an Wochenenden auf dem Notfall sieht, nicht wesentlich.» Einen Unterschied gibt es aber schon: «Wenn die Leute auf den Notfall kommen, dann liegt die eigentliche Verletzung immer schon eine gewisse Zeit zurück. Hier im Boxen ist dies nicht der Fall. Diese Unmittelbarkeit kann einen im ersten Moment schon auch überfordern.»

Die Profikämpfe verlaufen für die Ringärztin weit weniger ereignisreich. Es wird taktischer gekämpft, weniger Angriffsmöglichkeiten werden gewährt. Einzig der Gegner von Hiseni, der Spanier Vallejo, wird vorzeitig auf die Bretter geschickt und muss den Kampf in der sechsten Runde und nach vielen harten Treffern aufgeben. Das Publikum feiert seinen Ramadan, dann leert sich die Halle.

Noch ein letztes Mal hastet Tanja Grandinetti in die Kabinen, der unterlegene Spanier sitzt da auf einem Stuhl, eine Platzwunde am Kopf, aufgedunsene Lippe, geschwollenes Auge. Eine kurze Behandlung der Wunden, Schmerzmittel und einige Ratschläge, sollte sich sein Zustand verschlechtern. Dann tritt Tanja Grandinetti nach draussen, in die Nacht von Uster, atmet erleichtert die kalte Luft ein: «Ich bin noch voller Adrenalin», sagt sie, «aber glücklich.» Und nach einer kurzen Pause: «Ich werde es wieder machen!»

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Ist der Boxer bereit für den Kampf? Tanja Grandinetti prüft die Pupillenreflexe eines Teilnehmers.
Einer von vielen gezeichneten Boxern an diesem Abend im Stadthofsaal in Uster.
Volle Konzentration ist im Boxsport unabdingbar.

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