Der nächste Turnskandal«Sie sagte mir, dass ich aussehe wie ein Schwein»
Nach dem Kunstturnen gerät die Sparte Trampolin in die Schlagzeilen. SRF-Recherchen belasten eine Trainerin schwer – und mit ihr den Schweizerischen Turnverband.
Es sind einmal mehr erschreckende Aussagen. Ein trauriges Zeugnis. Ein nächstes dunkles Kapitel für den Schweizer Sport und den Schweizerischen Turnverband (STV). Wie Recherchen des Schweizer Fernsehens zeigen, soll eine Trainerin des Nordwestschweizerischen Kunstturn- und Trampolinzentrums in Liestal (NKL) ihre Turnerinnen und Turner der Disziplin Trampolin während Jahren verbal erniedrigt haben. Ihnen teilweise sogar Schmerzen zugefügt haben.
Fünf ihrer früheren Turnerinnen und ein Turner standen vor der Kamera von SRF, das ihre Geschichte in der Sendung «Rundschau» am Mittwochabend erzählt. «Sie hat uns nie geschlagen, aber manchmal wäre es mir fast lieber gewesen, als dass sie mich psychisch so fertigmacht. Dass sie mir sagt, dass ich aussehe wie ein Schwein und jeden Tag dicker und dicker werde», sagt eine der Turnerinnen. Oder eine andere: «Sie ist uns auf die Knie gesessen, damit sie überstreckt wurden. Viele von uns haben bis heute Knieprobleme.»
Die betroffenen Turnerinnen und Turner sind heute zwischen 17 und 20. Niemand turnt mehr in Liestal, die meisten haben ihre Karriere beendet. Vereinzelt erwähnen sie Suizidgedanken.
Ähnlichkeit zu den «Magglingen-Protokollen»
Brisant am Fall ist nicht einmal so sehr, dass diese und ähnliche Vorwürfe gegen die aus Belarus stammende Trainerin, die seit 2008 in Liestal arbeitet, schon seit 2018 intern bekannt sind: Dass die alte Führung des STV entsprechende Meldungen nicht verfolgt, hatte sich schon im Rahmen der Recherchen in der Rhythmischen Gymnastik und dem Kunstturnen der Frauen gezeigt. Diese wurden Ende Oktober 2020 öffentlich und sind als «Magglingen-Protokolle» bekannt.
Im Nachgang dieser Recherchen des «Magazins» dieser Zeitung mussten die alte Führung sowie einige Trainer gehen, die einstige CVP-Generalsekretärin Béatrice Wertli übernahm als Direktorin den operativen Lead des grössten Sportverbands der Schweiz. Sie versprach, einen Wandel beim STV voranzutreiben. Indem Sportministerin Viola Amherd den Skandal mit einer unabhängigen Untersuchung aufarbeitete, bekam er eine politische Tragweite. Eine der Konsequenzen war die Schaffung einer unabhängigen Anlaufstelle, bei der Missbräuche und Missstände im Trainings- oder Wettkampfbetrieb von jedem und jeder gemeldet werden können: Swiss Sport Integrity (SSI).
«Der STV war zum Zeitpunkt, als er die Meldung einreichte, nicht in Kenntnis darüber, dass bereits eine Untersuchung läuft.»
Wie SRF nun aber zeigen kann, sind die Missstände im Baselbieter Leistungszentrum im Herbst 2021 auch an die neue STV-Führung um Béatrice Wertli herangetragen worden. Doch diese habe sie, so der Vorwurf, verschleppt. Erst ein halbes Jahr später sei der STV an die SSI gelangt – kurz nachdem die Ethikstelle wegen einer Meldung durch das Sportamt Baselland eine Untersuchung gegen die beschuldigte Trainerin eröffnet hatte. Wenig später wurde diese vom Trainingsbetrieb suspendiert. Mit der provisorischen Verfügung wurde ihr untersagt, bis zum Ausgang des Verfahrens für das Leistungszentrum oder einen anderen Verein zu arbeiten.
Der STV erklärt diese zeitliche Diskrepanz mit anderen laufenden Verfahren. Und: «Damals, als wir das problematische Verhalten zur Kenntnis nahmen, führten wir mit Arbeitgebern vor Ort Gespräche», sagte Wertli am Mittwochabend in der «Rundschau» von SRF. «Als wir danach den Eindruck hatten, die Situation habe sich verbessert, liessen wir die Sache so laufen. Später stellten wir jedoch fest, dass dies doch nicht der Fall war und wendeten uns an Swiss Sport Integrity.»
Die beschuldigte Trainerin wehrte sich mit einer Einsprache gegen die Suspendierung und weist gegenüber SRF alle Anschuldigungen zurück. Sie seien eine Kampagne der ehemaligen Athletinnen. Die Disziplinarkammer des Schweizer Sports hob die Suspendierung fürs Erste auf und begründete, dass «keine unmittelbare Gefahr für die mutmasslichen Opfer vorliegt». Zudem treffe die Massnahme die Trainerin «in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit und persönlichen Freiheit».
So arbeitet sie heute unverändert beim Leistungszentrum in Liestal. Hingegen bleibt sie vom STV für überregionale oder nationale Mandate suspendiert. Für die Trainerin gilt die Unschuldsvermutung.
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