Simone Meiers neuer RomanSie ist Zürichs Champagner-Literatin
Alle zwei Jahre legt sie ein neues Buch vor. Doch ist Meier als Journalistin nur eine halbe Autorin? Ihr Erfolg spricht für sich – und für ihre Storys, die einen beschwipst zurücklassen.
Wir sitzen unter einem Vordach auf dem Friedhof Sihlfeld. Was auf ihrem eigenen Grabstein stehen würde, frage ich. «Nichts, ich will mich lieber irgendwo dazulegen. Aber die Aussicht, die muss schön sein.» In Meiers Büchern herrscht kaum je Friedhofsstimmung. Ihre Romane wie Rosé-Champagner: Sie lesen sich leicht, man merkt kaum, wenn man nachschenkt, und zum Schluss ist man verzückt tipsy.
Meier mag das episodische Erzählen, wie man es in der angelsächsischen Literatur findet. «Meine aktuelle Lieblingsautorin Rachel Cusk zu lesen, ist, als ob einem Ingrid Bergmann mit einem weissen Satinhandschuh über die Wange streichen würde. Ein derartiges Lesegefühl zu erzeugen, wäre mein Ziel.» Deutschsprachige Literatur liest Meier hingegen kaum. «Bei der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur konzentriert man sich oft stark auf eine Kunstsprache, die ich total bewundere, aber oft geht mir dabei die Geschichte unter. Und sehr häufig fehlt es mir dort an Ironie.»
«Schreiben ist für mich beglückend. Ich leide nicht, wenn ich schreibe.»
Das smoothe Leseerlebnis funktioniert in Meiers Büchern. «Fleisch», «Kuss» und jetzt auch «Reiz» sind schnell, originell und haben Handlung. Dass man bei ihr das Wort «affig» antrifft, zeigt, dass Simone Meier ihre Figuren so sprechen lässt, wie es zu deren Generation passt. Die Dialoge sind nie meta, sondern nahe an der Alltagsrealität. In «Reiz» ist alles drin: Frau und Herz und Glück und «Bravo» und Nenas «99 Luftballons». Der neue Roman beginnt in Dallas, und man ist direkt in den 80ern bei «Dallas» und «Denver Clan».
Meier kann Popkultur. Wer sie als Kulturjournalistin kennt, liest ihre «Bachelor»-Besprechungen, ohne sich die Sendung überhaupt anzuschauen. Ihre Kritiken sind die wirkliche Unterhaltung. Echte Satire mit beinahe persiflierendem Charakter.
Sie, die 2020 beim Online-Voting des «Schweizer Journalisten» Kulturjournalistin des Jahres wurde, schreibt unglaublich witzig und unglaublich bösartig. Ihre «Watson»-Texte sind immer auch Orientierung: Was darf man nicht verpassen, oder was kann man sich sparen. 384 Seiten Autobiografie von Bill Kaulitz muss man nicht lesen, weil Meier es bereits getan hat. Und das reicht dann auch, um sich noch einmal an den Tokio-Hotel-Kult der 2000er zu erinnern.
Ob journalistisch oder literarisch: Ihre Texte sind sinnlich, sehnend und schlau. «Schreiben ist für mich beglückend. Ich leide nicht, wenn ich schreibe», sagt sie. Was in gewissen Kreisen des Literaturbetriebs Skepsis auslöst. Ob sie als Journalistin nur eine halbe Schriftstellerin ist oder umgekehrt? Der guten unterhaltenden Literatur, die nicht unter Schmerzen geschrieben wurde, wird im deutschsprachigen Raum immer noch vorgeworfen, sie sei nur Gebrauchsliteratur.
Wenn in Meiers neuestem Buch «Reiz» ein Google-Street-View Männchen auftritt oder Herz-Emojis verschickt werden, ist das stilistisch konsequent. «Meine Bücher spielen jetzt. Aber muss ich deswegen Corona einbauen?» Das hat sie zum Glück nicht getan. «Über die Corona-Pandemie wird es wahrscheinlich einmal zwei oder drei gute Romane geben. In fünf oder sechs Jahren, wenn man dazu genug Distanz hat.»
Die Lieblingsfigur der Leserinnen kommt zurück
Ihr neuer Roman war für die Schriftstellerin aber ein guter Corona-Escape-Plan. Und sie hatte einen Auftrag. Die Leserschaft war nach dem letzten Buch «Kuss» ausser sich. «Du hast Valerie getötet!, haben mir viele Leute gesagt. Ich antwortete: Das ist interessant, das steht nämlich nirgends, sie ist nur in euren Köpfen tot.» Als dann auch der Verlag fand, dass Valerie nicht einfach verschwinden dürfe, hat sie sich entschieden, mit der Lieblingsfigur noch einmal ein Buch zu schreiben. «In ‹Kuss› funktioniert Valerie nur auf der Jetzt-Ebene und hat fast keine Vergangenheit. Also musste ich sie anreichern, und sie brauchte einen Antagonisten, den viel jüngeren Luca.»
«Beim Sex sind die Menschen pur und ungeschützt. Alles, was sie einander zufügen können, wird verkürzt auf zwei, und nichts ist dazwischen.»
Valerie in «Reiz» hat Träume und Traumata. Die angesehene Journalistin Mitte fünfzig ist in ihrem Leben schon in einige Schlachten gezogen. Sie ist sympathisch zynisch und hat alle Facetten von Sexualität durchlebt. Man muss sich die Namen der Männer aufschreiben, denen Valerie in 30 Jahren begegnet. Da sind Ethan, Teo, ein Rockstar, Lars und der platonische Freund F. Eigentlich wünscht sich Valerie Ruhe nach der «Apokalypse des Klimakteriums». Parallel zu ihrer Geschichte erzählt Meier vom 19-jährigen Luca. Er hat die Schule abgebrochen, arbeitet in der Fabrik, die Mutter ist flatterhaft und der Vater abwesend. Luca sammelt seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Merle, Malou, Liv und Kia. Für Valerie ist Luca ihr Spiegelbild. Und F. ist Lucas Vater.
«Sex Education» als Vorlage
Sex spielt in Meiers Büchern eine zentrale Rolle. Sexszenen sind aber immer eine heikle Angelegenheit. Sind sie schlecht geschrieben, machen sie ein ganzes Buch kaputt. Simone Meier tut es ganz behutsam und liess sich für «Reiz» von der Netflix-Serie «Sex Education» inspirieren: «‹Sex Education› war für mich eine Erleuchtung. Die sind so warmherzig und unverkrampft an dieses Thema herangegangen. Meine Besessenheit beim Schreiben ist, die Lupe auf das engste Zwischenmenschliche zu legen», sagt Meier. «Beim Sex sind die Menschen pur und ungeschützt. Alles, was sie einander zufügen können – Zärtlichkeit, Ekstase, Unterwerfung bis hin zu roher Gewalt –, wird verkürzt auf zwei, und nichts ist dazwischen.»
Simone Meiers zwei Berufe sind gut organisiert. Von Montag bis Donnerstag arbeitet sie im Grossraumbüro von «Watson». Den Freitag braucht sie, um runterzukommen, und am Wochenende arbeitet sie zu Hause an ihren Büchern. «Ich schreibe mir immer in die Agenda, wie viele Zeichen ich mir vornehme. Meistens zwischen 5000 und 7000 Zeichen. Ich habe ein Überich, das befiehlt. Es ist viel Fleiss und Disziplin – total uninteressant für die Leserinnen und Leser», lacht Meier. «Im Journalismus werden Geschichten an mich herangetragen, bei der Literatur sauge ich alles aus mir selber. Diese Differenz finde ich wahnsinnig attraktiv.»
Und diese Mischung macht sie erfolgreich. «Ich verdiene mit meinen Büchern Geld. Sonst würde ich es nicht machen, dafür bin ich zu realistisch. Am Ende ist ein Buch auch einfach ein Produkt, das verkauft werden muss. Von dem auch Verlage und Buchhandlungen leben wollen.»
Auch auf Instagram herrscht Champagner-Klima
Diesem Pragmatismus steht die grosse Freude von Simone Meier gegenüber. Kaum jemand freut sich so grundehrlich auf ein neues Buch, ohne eitel oder anbiedernd zu sein, wie sie. Auf Instagram postet sie Fotos von leeren Schwimmbädern, Cocktails oder dem Blick aus ihrem Fenster. Bevor der Kitsch ausbrechen könnte, fangen die kurzen pointierten Sätze unter den Bildern alles wieder auf. Wie in ihren Romanen.
Plötzlich regnet es frontal unter das Vordach. Wir stehen auf und laufen an den umgestürzten Bäumen und ausgerissen Wurzeln vorbei, weiter an den Schrebergärten bis zu den Gräbern neben dem Krematorium. Simone Meier will mir das Grab von Alenka, einer Figur aus «Reiz», zeigen. Davor stand der junge Luca: «Der Grabstein war ein glatt geschliffenes weisses Herz mit goldener Inschrift und Rosenrelief.» Wir laufen hin und her, der Regen ist erbarmungslos, aber wir finden das Grab nicht.
Simone Meier: Reiz. Verlag Kein & Aber, Zürich 2021, 256 S., ca. 28 Franken.
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