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Shakespeares «Sturm» am Pfauen
Dieser Yogi hat tyrannische Anwandlungen

Auf der Bergspitze im Pfauen: Die momohafte Miranda (Yèinou Avognon, links), ihr geliebter Ferdinand (Sasha Melroch) und ihr Vater Prospero (Sebastian Rudolph).

Über den Wolken ist die Freiheit schon lange nicht mehr grenzenlos. Und fällt im Sturm das Triebwerk eines Flugzeugs aus, ist das für adlige Passagiere genauso grässlich wie für die Flugbegleiterinnen. «Bedenk, wen du an Bord hast!», ermahnt der königliche Berater (Max Reichert) die Uniformierte noch; sie kontert knapp: «Keinen, der mir lieber wäre als ich selbst», zieht sich die Schwimmweste über, und schon rast das Flugzeug dem Boden entgegen. Da geht der Puls im Pfauen-Parkett bei jedem hoch, der mal in einem bedenklich rüttelnden Flugzeug gesessen ist.

Eine Wucht, wie die vielfach geehrte Video- und Performancekünstlerin Wu Tsang ihre Inszenierung von William Shakespeares «Der Sturm» beginnt! Wir machen fast eine 3-D-Erfahrung; virtueller und realer Raum scheinen ineinanderzufliessen. Die Aussenperspektive erhalten wir dabei in Form spektakulärer Videobilder eines ungestümen Himmels samt brennendem Flugzeug, die Innenperspektive als wilde Bühnen-Action mit taumelnden Fluggästen – und zwischenrein sticht uns der Shakespeare-Text, der von Anfang an die Spannung zwischen oben und unten thematisiert und die grundsätzliche Gleichheit aller angesichts des Todes.

Seit der Uraufführung 1611 wurde das Drama, das oft als «Romanze» kategorisiert wird, sehr unterschiedlich gedeutet. Längere Zeit interpretierte man die Hauptfigur, Inselherrscher und Magier Prospero, als Shakespeares Alter Ego, das primär über die Zauberkunst der poetischen Imagination nachdenkt – und sich am Ende von ihr verabschiedet. Später betrachtete man Prospero manchmal als Vorlage für ein affirmatives patriarchales Kolonialismusnarrativ, dann wieder, im Gegenteil, als subtile Kritik am ausbeuterischen Kolonialherrentum. Diese Vielfalt ist kein Wunder, zeigt sich Shakespeare doch auch in dem für seine Verhältnisse ungewöhnlich kurzen Stück, das die Einheit von Ort und Zeit bewahrt, als Meister der Komplexität.

Ein Bergspitzendrama

Die Zürcher Hausregisseurin hat nun mit ihrer Gruppe Moved by the Motion – welche die künstlerische Gesamtleitung innehatte und für Musik, Choreografie, Bewegung und Textfassung zeichnet – die Geschichte über Macht, Manipulation und Menschlichkeit, über Kunst und ihr Publikum, über Rache und Gerechtigkeit erstaunlich texttreu ins KI-Zeitalter hineingedreht. Auf einer Bergspitze in den Alpen regiert Sebastian Rudolphs Prospero als ein Silicon-Valley-artiger Tycoon mit Pferdeschwanz, der gern in der Yogapose des herabschauenden Hundes über sein Dasein meditiert, aber durchaus nicht ungern seinen tyrannischen Anwandlungen nachgibt.

Er träumt davon, sich an seiner Schwester Antonia (Marie Goyette) zu rächen, die ihm das Herzogtum geraubt hat. Geist Ariel, einst als Service-Applikation programmiert, hilft ihm bei der Verwirklichung, sehnt sich jedoch eigentlich nach Freiheit wie die Bioroboter in «Blade Runner». Tabita Johannes’ Maschine im Model-Look muss im sexualisierten Catwalkgang hinter ihrem Herrn und dessen Tochter Miranda – mit Momo-Vibes, Hoodie und runder Brille: Yèinou Avognon – hinterherräumen und sich regelmässig anpflaumen lassen.

Auch Sklave Caliban – ein erstklassiger Thomas Wodianka zwischen Glöckner von Notre-Dame, Golem und Grüsel – ist im Grunde ein digitales Produkt, seine Mama war der Muttercode. Bei Shakespeare bekam die Mutter-Hexe Sycorax keine eigene Szene, in Zürich schrieb ihr das KI-Programm Chat-GPT einen Prolog, «gepromptet» von Moved by the Motion. «Lasst uns diese Geschichte, traurig, wie sie ist, für alle, die nach Code und Macht nur streben, eine Warnung sein», deklamiert Sycorax in die wunderbaren changierenden Bergvideobilder hinein. «Sie täten gut daran, die Freiheit als Geschenk zu schätzen, ist sie einziges Geschenk doch wahr und recht.»

Der Magier Prospero wird auf seine Macht verzichten und seinem Geist Ariel (Tabita Johannes, links) die Freiheit schenken.

Das klingt zwar wie der Häuptling Seattle in jenem abgenudelten Film, der häufig im Religionsunterricht läuft. Aber keine Angst, diese Inszenierung ist zum Glück trotzdem keine apokalyptische Moralpredigt mit anstrengendem digitalem Surplus, die von der – bekanntermassen supergefährlichen – Cyberworld berichtet. Nein, in der beinahe dreistündigen Aufführung entfaltet sich eine unbändige Lust an der Fantasie, an opulenten Regenvisionen, an den Figuren mit ihren fiesen, ihren versöhnlichen und, ja, ihren komischen Seiten.

Besonders Rudolph brilliert als Komödiant. Sein Prospero lässt sich zwischendurch einen grünen Power-Smoothie reichen, derweil er sondiert, wie er seine Tochter am besten mit Prinz Ferdinand (Sasha Melroch) verkuppelt, der nach dem Flugzeugabsturz verloren herumirrt. Er lacht Dr.-No-esk über die verzweifelten Absturzopfer, die da hilflos über den Berggrat krabbeln, schliesslich sind es seine alten Feinde: seine böse Schwester, der König von Napple (Steven Sowah), dessen neidisch-machtgeiler Bruder (Kay Kysela), dessen braver Berater (ein hochkomischer Reichert) und eben dessen Sohn Ferdinand.

Mit der Zeit arbeitet sich der Magier mit den mixed feelings und dem Vernunftideal überzeugend an seine allumfassende Vergebungsszene heran und an seinen berühmten selbstreflexiven finalen Monolog: «Wenn nicht des Beifalls Wind meine Segel bläht, war all mein Streben vergebens, euch zu gefallen.»

Entertainment mit postkolonialistischem Drive

Überhaupt haben sich Moved by the Motion fürs Gefallen, fürs Entertainment entschieden – ganz ohne die postkolonialistischen Lesarten stumm zu klamauken. Rund um die tobleronehafte Pyramide, die da munter auf der Bühne kreist (wendiges Bühnenbild: Nicole Hoesli / Nina Mader), lassen sie die Geister toben, hergewirbelt durch das Künstliche-Intelligenz-Tool Midjourney, beflötet und besungen von Moved by the Motion selbst.

Dass Ferdinand zwischendurch mit Teenie Miranda – die beiden sind schockverliebt – einen Zwergenaufstand gegen Prospero plant, was bei Shakespeare mindere Chargen übernehmen, macht Sinn; dass die schauspielerische Leistung diesbezüglich ungefähr so jugendlich ausfällt wie das Unterfangen der beiden Sandkastenrevoluzzer selbst, mag an dieser Stelle durchgehen. Wu Tsang und ihr diverses Ensemble haben sich und uns einen flirrenden Winternachtstraum gegönnt.