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Serie «Ein Tag im Leben»
«Was passiert, wenn die Touristen nicht bald zurückkommen?»

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BotTalk

Als die Erde zu beben begann, war ich gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Es war kurz nach 23 Uhr, ich war erschöpft. Zuerst realisierte ich gar nicht, was passierte. Sobald ich verstand, bin ich mit meiner Familie aus unserem Haus geflüchtet, so schnell ich konnte. Wir haben es unverletzt geschafft. Alhamdulillah, Gott sei Dank! Aber der Schock blieb.

Das Erdbeben hat mich sehr mitgenommen. Ich schlafe nie viel, weil ich jeden Tag bis 23 Uhr arbeite und um 5 Uhr wieder aufstehen muss. Aber in den letzten Wochen war ich noch erschöpfter als sonst. Zum Glück habe ich das Gebet, damit beginne ich jeden Tag. Lasse ich eines aus, kann ich das förmlich spüren. Das Gebet gibt mir das Gefühl, dass sich jemand um mich kümmert. Das hat mich auch nach dem Beben gestützt.

Nach dem Gebet mache ich Frühstück. Meine ganze Familie isst gemeinsam, es ist die einzige Zeit am Tag, zu der wir uns alle sehen. Danach zur Arbeit zu fahren fällt mir seit dem Beben schwer. Ich weiss, dass meine Frau möchte, dass ich bei ihr und den Kindern bleibe. Sie will, dass wir alle zusammen sind, falls noch einmal etwas passiert. Aber das geht nicht. Wer bezahlt denn sonst die Miete, das Essen, die Kleidung?

Normalerweise lebe ich einfach in den Tag hinein und mache mir keine Gedanken über die Zukunft, so läuft das in Marokko. Aber jetzt bin ich nicht mehr so unbeschwert. Ich spüre die Verantwortung, die ich für meine Familie habe, mehr denn je.

Viele Läden in der Altstadt waren rasch wieder offen, wir haben unsere Routine wieder aufgenommen. Aber trotzdem sieht man den Schrecken in den Gesichtern der Menschen. Viele haben Verwandte oder Freunde verloren. Trotzdem müssen wir lächeln und gut gelaunt sein, sobald die Arbeit beginnt.

Die ersten Touristen kommen gegen zehn Uhr morgens. Wir zeigen ihnen unsere Leuchten und Spiegel, verhandeln. Im Moment läuft das Geschäft aber schlecht. Vor dem Beben kamen an guten Tagen achtzig, neunzig, hundert Leute zu uns in den Laden. Heute ist es höchstens noch ein Fünftel davon.

Weil ich lediglich einen Anteil am täglichen Gewinn bekomme und keinen regelmässigen Lohn, macht mir das Angst. Ich habe kein Erspartes. Mehr als vom einen Tag zum nächsten leben kann ich nicht, und Sozialversicherungen gibt es in Marokko nicht wirklich. Was passiert, wenn die Touristen nicht bald zurückkommen? Ich weiss es nicht. Das Leben ist hart hier, vor allem wenn man arm ist. Aber es ist, wie es ist.

Ich geniesse meine Arbeit manchmal trotz allem sehr. Es ist toll, immer wieder neue Menschen zu treffen. Verstehe ich mich mit Kunden gut, lade ich sie auch mal zu mir nach Hause zum Essen ein. Auch jetzt noch.

Gegen Abend ist die hektischste Zeit im Laden. Eigentlich bin ich dann schon sehr erschöpft und möchte nicht mehr arbeiten. Aber das geht nicht, dann würde ich ja weniger verdienen. Erst um 23 Uhr sind alle Touristen weg. Dann kann ich mich auf den Heimweg machen. Bis ich zu Hause bin und schlafen gehe, ist es meist 1 Uhr morgens.

Nach dem Beben haben wir ein paar Nächte draussen verbracht. Wir hatten Angst davor, dass unser Haus doch noch einstürzen könnte. Es ist seltsam: Der Ort, an dem du dich am sichersten fühlst, wird plötzlich zur Bedrohung.

Im Garten zu schlafen war eine Strapaze. Meine jüngste Tochter war keine zwei Monate alt, meine Frau hatte noch mit den Folgen der Geburt zu kämpfen. Und in dem ganzen Chaos musste sie draussen stillen, auf dem Boden schlafen, die Kinder beruhigen – es war alles zu viel.

Nach vier Tagen sind wir wieder ins Haus zurück, obwohl noch Nachbeben drohten. Es ist uns, Alhamdulillah, nichts mehr passiert. Aber wir hätten auch einfach keine andere Wahl gehabt.

Protokoll: Andrea Marti