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Atlantis der Nordsee
Sensationeller Fund – Stadt im Watten­meer entdeckt

Sturmfluten an der Nordsee: Eine besonders heftige veränderte 1362 den Verlauf der Küste und zerstörte den Ort Rungholt.
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Manchmal hört man noch die Glocken. Das erzählten sich die Menschen lange an der Nordseeküste – die Glocken jener Kirche, die in dem sagenumwobenen Ort Rungholt stand. Bis die Nordsee die Stadt verschluckte. Ihr geisterhaftes Läuten soll an jene Katastrophe erinnern, die den Küstenverlauf einst für immer veränderte.

Lange galt das versunkene Rungholt als Atlantis der Nordsee. Niemand wusste so genau, wo der Ort gestanden hatte. Eine reiche Hafenstadt, untergegangen, so erzählten es die Legenden, weil ihre Bewohner lasterhaft gelebt hätten. Und wie bei jenem Atlantis, über das Plato in der Antike schrieb, war irgendwann auch bei Rungholt nicht mehr ganz klar, ob es die Stadt je gegeben hatte oder ob sie nur in den Mythen und Legenden lebte.

«Wir haben ungefähr drei Stunden Zeit, dann müssen wir uns vor der Flut wieder in Sicherheit bringen.»

Ruth Blankenfeldt, Archäologin

30 Kilo schwer und drei Meter breit ist der Wagen, den das Team um die Archäologin Ruth Blankenfeldt Tag für Tag ins Watt schiebt. Darauf sind Geräte für geomagnetische Aufnahmen montiert. Die Arbeit ist anstrengend, der Schlick heimtückisch. Manchmal versinke man plötzlich bis zur Hüfte, das Watt birgt viele Gefahren. Am Tagesziel angekommen, muss das Forscherteam zügig arbeiten. «Wir haben ungefähr drei Stunden Zeit, dann müssen wir uns vor der Flut wieder in Sicherheit bringen», sagt Blankenfeldt, die am Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie forscht.

Dem interdisziplinären Team aus Archäologinnen und Geophysikern ist ein sensationeller Fund gelungen. Sie haben die legendäre Kirche von Rungholt lokalisiert und mit ihr Spuren der einstigen Stadt. Anders als Platos Atlantis hat es den Ort in der Nordsee tatsächlich gegeben.

Eine gewaltige Flut riss alles mit sich

Untergegangen ist er bei einer Katastrophe im Januar des Jahres 1362. Am Vortag wütete ein heftiger Sturm über den Britischen Inseln. Wer an der Nordseeküste nach Westen schaute, der ahnte, dass Schlimmes drohte. Wie schlimm es werden würde, aber kaum. Der Vollmond stand am Himmel. Einen Tag später brach eine Sturmflut über die Menschen in Nordfriesland, die so gewaltig war, dass sie ein ganzes Stück Küste wegschwemmte.

Meterhohe Wellen zerstörten alles, Tausende Menschen starben. Als «grote Mandränke», das grosse Ertrinken, ging das Ereignis in die Geschichte ein. Dort, wo heute südlich von Sylt Meer ist, lebten einst Menschen, die Küstenstadt Husum war ein Ort im Hinterland.

Rund drei Stunden haben die Forschenden jeweils für ihre Grabungen, dann kommt die nächste Flut.

Der Wattwagen der Forscher vermisst den Untergrund. Die Instrumente zeichnen Störungen im Magnetfeld auf und damit, was im Schlick verborgen liegt. Auf einem Bildschirm entsteht dann eine Aufnahme der verschütteten Strukturen. Finden die Forscher einen vielversprechenden Ort, entnehmen die Geoarchäologen im Team einen Bohrkern. Sie bohren drei Meter tief, in den Halligen manchmal sogar bis in eine Tiefe von 6 bis 7 Metern.

Auch Schmuck, Keramik, Spinnwirteln oder Waffen gehören zu den Fundgegenständen.

Dann beginnt die Grabung, und es öffnet sich ein Fenster in den Alltag der Menschen im 14. Jahrhundert. «Gefunden haben wir beispielsweise einen sogenannten Schlittknochen. Das banden sich die Menschen unter die Füsse, um nicht auszurutschen», sagt Blankenfeldt. Auch Schmuck, Keramik, Spinnwirteln oder Waffen gehören zu den Fundgegenständen. Ein Teil der Keramik stammte aus fernen Ländern.

Die Legenden um Rungholt entstanden vor allem im 17. Jahrhundert. Das war kein Zufall. Eine zweite verheerende Sturmflut riss 1666 weitere Teil der Nordseeküste mit sich. Es blieb nur noch jenes Land, das heute die Inseln Amrum, Föhr oder Pellworm sind. Der Pastor Anton Heimreich schrieb daraufhin eine der bekannten Rungholt-Legenden auf, die von christlichen Moralvorstellungen geprägt ist. «Diese Legenden sind Teil eines sehr alten Erzählmusters, wonach Gott die Menschen mit Sintfluten straft», sagt der Historiker Oliver Auge, Professor für die Geschichte des Spätmittelalters an der Universität Kiel.

Die Bewohner von Rungholt hätten so lasterhaft gelebt, berichtete Pastor Heimreich, dass sie sich sogar über das christliche Abendmahl lustig gemacht hätten. Ein Schwein hätten sie betrunken gemacht und ihm dann Hostien verfüttert. Dieses sündhafte Leben setzten die Menschen nun am Meeresgrund fort, deshalb die geisterhaften Glockenklänge.

In Wahrheit blieb von der Stadt kaum etwas übrig ausser den Grundmauern, auf sie sind die Forscher nun gestossen. Die Wucht des Wassers war so gewaltig, dass es nicht nur die Gebäude zerstörte, sondern auch die in mühseliger Arbeit errichteten Warften. Warften sind Erdhügel, auf denen man in der Marsch baut, um bei Flut einen gewissen Schutz zu haben. Das Watt wird bei jeder Flut überschwemmt. 

Bekannt ist auch das Gedicht «Trutz Blanke Hans» des deutschen Dichters Detlef von Liliencron aus dem Jahr 1883. Liliencron verglich Rungholt mit dem alten Rom, schrieb von «lärmenden Leuten, betrunkenen Massen». Sogar der Mond habe den «protzigen Rungholter Wahn» belächelt. Und dann habe ein «Ungeheuer», das «tief auf dem Grunde» der «Mordsee» schliefe, die Stadt ausgelöscht.

So gross und bedeutend wie das alte Rom war Rungholt zu keiner Zeit. Schätzungsweise 2000 Menschen lebten dort, was für die damalige Zeit aber eine beachtliche Grösse für einen Küstenort war. «Rungholt war ein Ort, der gerade durchstartete, als das Wasser kam», sagt Historiker Auge. Es habe eine Art Goldgräberstimmung geherrscht, das Gebiet sei dicht besiedelt und kultiviert gewesen.

Die Menschen in Rungholt lebten vom Handel, von der Landwirtschaft und von der Salzgewinnung in der Marsch.

Das zeigt die Grösse der Kirche, die für damalige Verhältnisse mit 40 mal 15 Metern Grundriss stattlich war. Sie war vermutlich das Zentrum des Ortes. Erwähnt ist in kirchlichen Quellen auch, dass es in Rungholt nicht nur einen Pastor, sondern ein ganzes Kleriker-Kolleg gab. «Eine solche Gemeinschaft zeigt, dass Rungholt damals eine gewisse Bedeutung hatte», sagt Auge. Ein weiterer Hinweis findet sich in Quellen des Vatikans. Dort vermerkte ein Chronist mit Bedauern, dass nun leider keine Zahlungen aus Rungholt mehr zu erwarten seien.

Die Menschen in Rungholt lebten vom Handel, von der Landwirtschaft und von der Salzgewinnung in der Marsch. Damit verschlimmerten sie vermutlich die Folgen der Flut, denn der Boden war weniger stabil. Lokales Handwerk versorgte die Ansässigen mit Alltagsgegenständen. Die Stadt lag geografisch günstig, Waren von den Britischen Inseln und aus dem Süden trafen dort ein. Der Hafen hatte sogar eine Schleuse. Deiche boten Schutz, doch sie waren nicht hoch genug, um den Fluten im Januar 1362 zu trotzen.

Parallelen zur Alten Eidgenossenschaft

Das Gebiet, das die Forschenden untersuchen, ist mehr als zehn Quadratkilometer gross. Darin sind sie schon auf 54 Siedlungshügel gestossen, auf ein Wegesystem, die Reste eines Entwässerungssystems und des Deichs und zwei kleinere Kirchen. Das Fundament der Hauptkirche haben sie nun nördlich der Hallig Südfall gefunden. Wo genau, will das Team erst verraten, wenn ihre wissenschaftliche Publikation zu den Funden erscheint. Auch einzelne Steine vom Bau der Kirche sind bereits aufgetaucht.

Nur im Fernsehen waren die Aufnahmen von den Grundmauern der Kirche kurz zu sehen, veröffentlicht hat das Forschungsteam die Bilder noch nicht.

Die nordfriesische Küste und das ganze Herzogtum Schleswig gehörten im 14. Jahrhundert zum Einflussbereich des dänischen Königs. Nationalstaaten, wie wir sie heute kennen, existierten damals noch nicht. Die Region Nordfriesland war relativ autonom und von oligarchischen Strukturen geprägt. «In Rungholt gab es vermutlich mehrere mächtige Familien, die das Sagen hatten», sagt Auge. Es waren friesische Seefahrer, Kaufleute und Händler.

Prägend war, dass die Menschen an der Nordseeküste zusammen Deiche bauen mussten. «Das schuf ein Gemeinschaftsgefühl, von Adligen liess man sich nichts vorschreiben», sagt Historiker Auge. «Diese Gesellschaftsform kann man durchaus mit der alten Eidgenossenschaft vergleichen, die zeitgleich auf dem Gebiet der heutigen Schweiz entstand.»

Noch hat das Watt nicht alle Geheimnisse preisgegeben. Auch was in den Tagen nach der verheerenden Flut geschah, weiss man nicht und wird es vielleicht auch nie erfahren. Die Region wird nun aber in einem grossen Forschungsprojekt weiter untersucht. Und im Frühjahr 2024 folgen die nächsten Grabungen.