Selenski-Besuch Schweiz will China für Friedensgipfel gewinnen
Der Besuch des ukrainischen Präsidenten in Bern endete mit der Ankündigung eines Friedensgipfels. Nun reist Aussenminister Ignazio Cassis nach Peking.

Um 17.40 Uhr tritt Wolodimir Selenski vor die Medien. Der ukrainische Präsident, wie man ihn von unzähligen Auftritten kennt: mit ernster Miene und im olivgrünen Outfit, das er seit Kriegsbeginn trägt. Diesmal steht er nicht in Kiew oder in Washington, sondern im Landgut Lohn in Kehrsatz bei Bern. Neben ihm: Bundespräsidentin Viola Amherd.
Es ist der Abschluss eines Tages, wie ihn Bern wohl noch selten gesehen hat, vielleicht noch nie. Das sei der grösste Polizeieinsatz, den sie je erlebt habe, sagt eine Polizistin bei der Sicherheitskontrolle im Schlössli von Kehrsatz.
Zuerst redet Amherd. Der Besuch sei eine Gelegenheit, Solidarität mit der Ukraine zu bekunden, stellt sie fest. Und dann sagt die Bundespräsidentin etwas Überraschendes: Die Schweiz sei bereit, einen hochrangigen Friedensgipfel zu organisieren. Selenski sagt, die Welt stehe an einem Scheideweg. Er bedankt sich für die Unterstützung. Und auch er spricht davon: In der Schweiz solle ein Friedensgipfel stattfinden.
Bisher haben Friedensgespräche auf technischer Ebene stattgefunden, zuletzt am Wochenende in Davos. Nun soll die politische Ebene folgen. Aussenminister Ignazio Cassis machte in Davos allerdings klar: Sinnvoll ist ein Gipfel nur, wenn auch Russland am Tisch sitzt. Und das ist derzeit unrealistisch. Selenski sagt es in Kehrsatz deutlich: «Eingeladen sind alle Länder, welche die Souveränität der Ukraine respektieren.» Also alle ausser Russland.
Cassis reist nach China
Ein Zwischenschritt könnte nun darin bestehen, dass China teilnimmt – ein Land, das Russland nahesteht. An den Friedensgesprächen in Davos haben weder China noch Russland teilgenommen. Doch am Montag weilt Li Qiang in Bern, der chinesische Premierminister. Gleichzeitig mit Selenski.
Die Schweizer Diplomaten hätten diese Gelegenheit gern genutzt. Zu einem Treffen zwischen Selenski und Li Qiang kommt es aber nicht. Dafür sei es zu früh, heisst es in diplomatischen Kreisen. Das Ziel soll weiter verfolgt werden: Laut gut informierten Quellen wird Aussenminister Ignazio Cassis in zwei Wochen nach Peking reisen, um Gespräche über eine mögliche Beteiligung Chinas zu führen.
In Bern drehen sich die Gespräche mit Chinas Nummer zwei unter anderem um das Freihandelsabkommen, das weiterentwickelt werden soll. Die Schweiz und China unterzeichnen eine gemeinsame Erklärung. Das sei ein wichtiger Schritt im Hinblick auf die Aufnahme «möglicher Verhandlungen», schreibt das Verteidigungsdepartement.
Scharfschützen auf den Dächern
Li ist mit einem grossen Begleittross angereist. Am Montagmorgen machen zahlreiche Chinesinnen und Chinesen eine Sightseeingtour durch die Innenstadt, einige von ihnen tragen chinesische und Schweizer Fähnchen, schiessen Fotos. Und es passiert Aussergewöhnliches an diesem Tag in Bern.
Die Bundesgasse ist gesperrt, der Blick auf das Bundeshaus durch einen meterhohen Sichtschutz verwehrt, das Bundeshaus abgeriegelt. Eine Spezialeinheit der Polizei sucht mit Hunden die Gegend ab, das Fedpol betreibt einen Checkpoint. Auf den Dächern sind Scharfschützen postiert. Das ganze Programm.

Selenski gehört zu den besonders gefährdeten Staatsoberhäuptern, und die Schweiz ist nicht unbedingt der sicherste Ort für ihn: Anders als andere Länder hat sie darauf verzichtet, russische Diplomaten – unter denen viele Agenten vermutet werden – auszuweisen.
Der Zeitplan ist Geheimsache. Die ukrainische Maschine landet schliesslich um 11.30 Uhr auf dem Flughafen Zürich, wo Aussenminister Ignazio Cassis den ukrainischen Präsidenten mit einer Umarmung empfängt. Von dort aus geht es im Armeehelikopter weiter nach Bern. Um 14.30 trifft die Wagenkolonne mit Selenski vor dem Bundeshaus ein, überwacht von einem Helikopter.
SVP nicht dabei
Im Bundeshaus trifft sich der ukrainische Präsident mit Bundespräsidentin Viola Amherd sowie Nationalratspräsident Eric Nussbaumer (SP) und Ständeratspräsidentin Eva Herzog (SP). Anschliessend folgen Gespräche mit den Präsidentinnen und Präsidenten der Parteien und Fraktionen im eidgenössischen Parlament. Einzig die SVP ist nicht vertreten. Der Parteipräsident und der Fraktionschef machen terminliche Gründe geltend.
Die Gespräche mit den Parteispitzen dauern rund eine halbe Stunde. Selenski habe auf die extrem schwierige Situation in der Ukraine hingewiesen, sagt SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer. «Er beschrieb sehr eindrücklich und berührend, wie sehr die ukrainische Bevölkerung unter dem Krieg leidet.»
Selenski habe sich dankbar für die Hilfe gezeigt, die jedes Land nach seinen Möglichkeiten leiste, sagen mehrere Parteichefs nach den Gesprächen. Von der Schweiz erhoffe sich Selenski insbesondere, dass sie eingefrorene russische Gelder zum Wiederaufbau in der Ukraine freigebe.
Es ist Selenskis erster Besuch in der Schweiz seit Kriegsbeginn. Bisher hat er sich nur per Videobotschaft zu Wort gemeldet – zum ersten Mal im März 2022 kurz nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, als er zu den Teilnehmenden einer Friedenskundgebung auf dem Bundesplatz sprach. Damals kritisierte er Schweizer Konzerne, die sich nicht aus Russland zurückgezogen hatten.
Ein gutes Jahr später – im Juni 2023 – wandte sich der ukrainische Präsident ans Parlament. Er berichtete in einer Videoübertragung vom Leid, das seinem Land täglich widerfahre – von Kindern, die in Hauseingängen oder in Bunkern schlafen müssen, weil sie dort besser vor russischen Raketen geschützt sind. Selenski bedankte sich schon damals für die Solidarität.
Sanktionen, Waffen, Hilfspaket
Ist die Schweiz tatsächlich solidarisch? Der Bundesrat beschloss zwar, die EU-Sanktionen gegen Russland zu übernehmen. Immer wieder wird aber Kritik laut, die Schweiz setze diese ungenügend um. Einer internationalen Taskforce, die Oligarchengelder aufspürt, will die Schweiz nicht beitreten. Waffenlieferungen sind für die Schweiz aus neutralitätsrechtlichen Gründen ausgeschlossen. Seit Kriegsbeginn wird darüber gestritten, ob und wie die Schweiz anderen Ländern erlauben könnte, Schweizer Waffen an die Ukraine weiterzugeben – bisher ohne Ergebnis.

Die Schweiz leistet humanitäre Hilfe. Im internationalen Vergleich schneidet sie jedoch nicht besonders gut ab, wenn die militärische Hilfe anderer Staaten mitberücksichtigt wird. Aktuell berät der Bundesrat über ein grosses Hilfspaket: Während zehn Jahren soll die Ukraine beim Wiederaufbau mit insgesamt bis zu 6 Milliarden Franken unterstützt werden. Die Finanzierung ist aber umstritten.
Mit dem Friedensgipfel könnte die Schweiz nun eine wichtige Rolle spielen – sofern es gelingt, daraus mehr als eine Veranstaltung für die Galerie zu machen. In Kehrsatz bringen Amherd und Selenski ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass das gelingt.

In den vorderen Reihen sitzen Diplomaten. Einzelne wollen am Ende der Medienkonferenz zu Applaus ansetzen, merken dann aber, dass niemand einstimmt, und beenden den Versuch. Applaus ist nicht üblich an Medienkonferenzen. Selenski schmunzelt und sagt: «Not too loud.» Für einen Moment ist der Ernst von seinem Gesicht gewichen. Er hat einen weiteren Tag hinter sich, einen weiteren Tag des Kampfes um Unterstützung für die Ukraine.
Für die Bundespräsidentin ist der aussergewöhnliche Arbeitstag noch nicht zu Ende: Am Abend steht am Weltwirtschaftsforum noch ein kurzes Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf dem Programm. «Der ganze Tag wird sicher als einer der erinnerungswürdigsten meines Präsidialjahrs in Erinnerung bleiben», sagt sie. Auch für Selenski heisst es: Nächster Halt Davos. Er besteigt in Kehrsatz einen Sonderzug.
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