Krise in FrankreichSelbst über einen Rücktritt Macrons wird geredet
Der Präsident steckt in der Klemme: Das Coronavirus ist fast besiegt, doch die Wirtschaft liegt am Boden. Und nun schwillt auch noch der Protest an.
Das Ausmass der Krise lässt sich auch anhand der Dimension der Gerüchte vermessen. Die konservative Tageszeitung «Le Figaro» schrieb diese Woche, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron denke über einen Rücktritt nach, um vorgezogene Neuwahlen zu ermöglichen, als deren Sieger er sich sehe. Durch dieses Manöver wolle er sich den Rückhalt der Franzosen sichern. Das Gerücht wurde so breit diskutiert, dass sich der Elysée-Palast noch zu einem Dementi genötigt sah: Der Rücktritt des Präsidenten habe zu keinem Zeitpunkt zur Debatte gestanden.
Dass Frankreich vor einer Zäsur steht, bestreitet jedoch niemand. Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, hatte das Land das öffentliche Leben und die Wirtschaft acht Wochen lang, von Mitte März bis Mitte Mai, lahmgelegt. Den Neubeginn soll nun eine Rede an die Nation markieren: Präsident Macron wird sich am Sonntagabend in einer Direktübertragung an die Bevölkerung wenden. In der Theorie könnte Macron die Gelegenheit nutzen, den Franzosen und sich selbst zu gratulieren.
Die Pandemie ist «unter Kontrolle»
Am Mittwoch hatte der wissenschaftliche Beirat offiziell erklärt, die Pandemie sei «unter Kontrolle». Der medizinische Notstand, eine eigens für Covid-19 geschaffene Form des Ausnahmezustands, soll nicht über den 10. Juli hinaus verlängert werden. Wurde vor ein paar Wochen noch darüber spekuliert, dass die Schulen erst im September wieder öffnen könnten, werden die hygienischen Vorsichtsmassnahmen schon kommende Woche deutlich heruntergefahren. Mehr und mehr Schüler kehren in ihre Klassenzimmer zurück. Und an Frankreichs Stränden, die man bis Mitte Mai zwei Monate lang überhaupt nicht betreten durfte, sammeln sich die Badegäste, ohne dass es zum alarmierten Aufschrei der Virologen käme.
Doch der Fokus hat sich längst verschoben. In seiner ersten Fernsehansprache, nachdem er dem Land eine strenge Ausgangssperre verordnet hatte, erklärte Macron dem Virus den «Krieg». Nun, wo es so wirkt, als sei der Feind wenigstens ein Stück weit besiegt, kommen die massiven Kollateralschäden ins Blickfeld. Frankreichs Wirtschaft rechnet mit einem Einbruch von mindestens 11 Prozent. Finanzminister Bruno Le Maire rechnet damit, dass 800’000 Franzosen bis Ende des Jahres ihren Job verlieren.
Macrons erste Erfolge, die sinkende Arbeitslosigkeit und steigende Investitionen, sind durch Corona zunichtegemacht worden. Schon jetzt wissen die Armenspeisungen kaum noch, wie sie dem neuen Ansturm gerecht werden können. Die Nothilfeorganisation Secours Populaires hat bei ihren Essensausgaben allein zwischen Mitte März und Mitte Mai 45 Prozent mehr Menschen versorgen müssen als zuvor.
Gleichzeitig finden die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt, die durch den Mord George Floyds in den USA ihren Anfang nahmen, in Frankreich ein gewaltiges Echo. Trotz des nach wie vor wegen Corona geltenden Demonstrationsverbots sind seit dem 2. Juni im ganzen Land Zehntausende Menschen auf die Strasse gegangen. Die Bewegung wird vor allen Dingen von jungen Menschen getragen, die sich solidarisch mit den Anliegen schwarzer Amerikaner erklären, gleichzeitig jedoch Missstände in Frankreich anklagen.
Der Innenminister sieht den Begriff «Polizeigewalt» als Angriff auf die Würde der Beamten.
Das Waffenarsenal der französischen Polizei steht in der Kritik, seit Dutzende Demonstranten bei den Protesten der Gelbwesten ihr Augenlicht verloren haben. Antirassistische Organisationen prangern zudem brutale Festnahmetechniken an, die besonders häufig bei nicht weissen Franzosen angewendet werden.
Frankreichs Innenminister Christophe Castaner untersagte am Montag zwar die weitere Anwendung eines Würgegriffs, betonte jedoch gleichzeitig, dass allein schon der Begriff «Polizeigewalt» ein Angriff auf die Würde der Beamten sei. Am Samstag ist in Paris eine weitere Grossdemonstration aus Solidarität mit der internationalen Black-Lives-Matter-Bewegung geplant. Im Zentrum dürfte dabei auch die Statue Jean-Baptiste Colberts (1619–1683) stehen, die vor der Nationalversammlung thront.
Colbert hatte als Finanzminister unter König Ludwig XIV. die Kolonialpolitik begründet. Auf Colbert geht der «Code noir» zurück, ein Gesetz, das Schwarze entmenschlicht und die rechtliche Grundlage der Sklaverei auf Frankreichs Zuckerrohrplantagen bildete. Der Ehrenpräsident des Dachverbands schwarzer Organisationen in Frankreich nennt Colbert den «Feind der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit». Aktivisten fordern, Colbert von seinem Podest zu stürzen.
Macron nennt Rassismus eine Krankheit
Macron hatte in seiner Zeit als Präsidentschaftskandidat den französischen Kolonialismus ein «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» genannt, zu der jüngsten Rassismusdebatte hat er bislang jedoch geschwiegen. Über die Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye liess er am Mittwoch lediglich verkünden, er halte den Rassismus für «eine Krankheit, die die gesamte Gesellschaft betrifft». Es sei jedoch wichtig, dass die Ordnungskräfte «nicht in den Dreck gezogen» würden.
Von Macrons Rede an die Nation wird nun erwartet, dass er sich sowohl zu den sozialen Unruhen als auch zur ökonomischen Misere äussert. Zudem wird darüber spekuliert, welche Strategien er vorschlagen wird, die über die Analyse der Situation hinausgehen. So könnte er eine Umbildung der Regierung anordnen.
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