Literatur aus IrlandSelbst das Frühstück war eine Inszenierung
Wie ist es, eine Mutter zu haben, die ein Star ist, die man also mit einem Millionenpublikum teilen muss? Die irische Autorin Anne Enright gibt in ihrem Roman «Die Schauspielerin» die Antwort darauf.

«Wie war sie?», fragen die Leute immer wieder. Fragt auch eine junge Feministin, die eine Doktorarbeit über sie schreiben will. Sie, das ist Katherine O’Dell, irische Schauspielerin, einst ein Star am Broadway und in Hollywood und in ihrer Heimat immer noch eine Ikone, auch nach ihrem Tod. Ja, wie war sie?, fragt sich auch Norah, die Tochter. War sie ihr nicht am nächsten, hat sie nicht nur auf Bühne und Leinwand angehimmelt, sondern als «normalen Menschen» erlebt, als Mutter eben, die ihr das Frühstück bereitete?
Es ist so eine Sache mit «normal» und dem Frühstück. Denn selbst wenn die Mutter Toast schmierte und ass, tat sie es für ein imaginäres Publikum. Frühstücken, das war eine Szene, wie in einem Stück oder einem Film. Norah hatte ihre Mutter nie für sich allein. Sie teilte sie immer mit unzähligen Bewunderern, ob in einer Kriegsrührschmonzette wie «Gebet vor dem Morgen», in der Rolle ihres Lebens, oder in einem Avantgardestück, ganz am Ende ihrer Karriere, wo sie nackt über die Bühne geschleift und vergewaltigt wird.
Alles Fake
Wer war sie also – bloss die Summe ihrer Rollen? Lebte sie erst im Licht der Scheinwerfer, vor der Kamera; war sie erst sie selbst, wenn sie jemand anderes war? So scheint es, so stellt sich der Glanz und das Elend ihres Lebens dar, denn als der Ruhm verblasst, verkümmert auch das, was sich dahinter verbarg. Und bestand dies nicht auch aus vielen kleinen Täuschungsmanövern?
Die «irischste Schauspielerin aller Zeiten», wie die Tochter ironisch formuliert, war keine. Katherine ist in London geboren, ihr «irischer» Nachname verdankt sich einem falschen Apostroph (eigentlich heisst sie, nach ihrer Mutter, Odell), die roten Haare hat ihr ein Friseur auf Anweisung ihres Hollywoodstudios verpasst. Dasselbe Studio hat sie auch mit einem Kollegen verheiratet, nicht zuletzt, um dessen Homosexualität zu tarnen.

Der Versuch der Doktorandin, der Mutter eine weitere falsche Identität zu geben – als «grosse irische Feministin» –, ärgert Norah und bewegt sie dazu, die Frage «Wie war sie?» selbst zu beantworten. Mit einem Buch. Wozu ist sie schliesslich Schriftstellerin (deren sämtliche fünf Romane vom Verlag beworben wurden mit «von der Tochter von Katherine O’Dell»). Was wir hier lesen, der Roman «Die Schauspielerin», ist aber nicht das Buch, das Norah geschrieben hat, sondern eher eine Vorstufe dazu. Eine assoziative Suchbewegung mit vielen Sprüngen und Kehren, bei der sich zu der Muttersuche die Frage gesellt: Wer bin ich, und was hat das mit meiner Mutter zu tun?
Die Frage nach dem Vater
Zum grossen Thema Schauspielerei – die Autorin spielt es an den beiden Spannungspolen «Magie» und «Manipulation» durch, hier die naive Freude des Landpublikums an einer Wandertruppe, dort das Kalkül mit den gelenkten Gefühlen der Masse – tritt nach und nach ein zweites. Da geht es um Sex, um das Verhältnis zu den dominanten Männern (Katherines grosse Zeit sind die späten 1940er und die frühen 1950er) und für Norah ganz speziell die Frage, wer ihr Vater war.
Den verschweigt die Mutter der Tochter, solange sie lebt. Nicht jedoch, dass Norah, als uneheliches Kind, ein Karrierekiller war, eine moralische Katastrophe. Erst nach dem Tod erschliesst die Tochter aus einem Karton mit Notizen, dass die Mutter Opfer einer Vergewaltigung war, unter erbärmlichsten Umständen auf einer Toilette, und doch hat sie notiert: «Ich musste ihm geholfen haben.» Ist der Schuss, den Katherine, ohne Angebote, depressiv und wütend, auf einen Produzenten abgibt, der sie ausgebootet hat, eine verschobene Rache an Männer-Unholden insgesamt?
«Ich hatte keine Angst. Also hatte ich auch keine Entschuldigung, dort zu liegen.»
Norah, eine Generation später, mit einem entspannten Verhältnis zum Sex, zu ihrem Lebenspartner und zu ihren eigenen Kindern, hat auch eine #MeToo-Geschichte zu erzählen. Was sie als junges Mädchen mit dem doppelt so alten Dozenten Niall Duggan, genannt «der Ficker», erlebt, aber erst zwanzig Jahre später begreifen und beschreiben kann, ist in seiner analytischen Schärfe und Ambivalenz erhellender als das meiste, was man in diesen Jahren über die Grauzone zwischen Unbehagen und Überwältigung lesen konnte.
Und viel brillanter formuliert! Denn Anne Enright, einer der besten Autorinnen englischer Sprache (für «Das Familientreffen» erhielt sie 2007 den Booker-Preis), glaubt man sofort, dass ihre Erzählerfigur schreiben kann. «Ich hatte keine Angst. Also hatte ich auch keine Entschuldigung, dort zu liegen», lautet ein Schlüsselsatz über die Begegnung mit «dem Ficker». Ein anderer, über das mütterliche Getue, heisst: «Sie hätte nicht so tun müssen, als wäre sie meine Mutter, denn das war sie schon. Es war wie Doppelrahm.» Oder, über die «Irisierung» von deren Biografie: «Meine Mutter hatte ihre Kindheit umgeschrieben und dann die Originalfassung verloren.»
Anne Enright gelingt es, den lockeren Ton des Suchens und Assoziierens beizubehalten, Zeit- und Filmgeschichte wie nebenbei zu integrieren (Orson Welles taucht ebenso auf wie die Bombenattentate der «Troubles») und schliesslich klarzumachen, dass es auf die Frage «Wie war sie?» keine Antwort in einem Satz geben kann. Sondern nur diesen Roman.
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