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Überlastete Strafverfolger
Schweizer Justiz vor dem Kollaps – über 100’000 offene Fälle

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Es hätte ein Standardeingriff werden sollen, um ihre Rückenschmerzen zu lindern. Stattdessen verblutete die Patientin noch auf dem Operationstisch. Mehrere Gerichte sprachen ihren Arzt in der Folge wegen fahrlässiger Tötung schuldig – doch am Ende blieb er ohne jegliche Strafe. Das Bundesgericht ordnete an, den Fall einzustellen. Nicht etwa, weil es die Unschuld des Mediziners festgestellt hatte. Sondern weil das Verfahren mit zwölf Jahren zu lange gedauert hatte.

Ungestraft blieb auch der Tod eines 17-jährigen Lehrlings, der in einer Appenzeller Werkstatt von einem Warenlift zerdrückt wurde. Die Staatsanwaltschaft ermittelte fast sieben Jahre lang, ob jemand am tragischen Vorfall eine Schuld trägt. Doch als sie die möglichen Verantwortlichen endlich anklagte, war es zu spät. Der Fall verjährte.

Es sind Entscheide, die jedem Gerechtigkeitssinn widersprechen. Doch genau solche Fälle drohen sich zu häufen. Die Schweizer Justiz steckt in Schwierigkeiten, die gerade eine neue Dimension erreichen. Wie Recherchen zeigen, sind die Strafverfolgerinnen und Strafverfolger überlastet und ausgebrannt. Und selbst Rechtsanwälte auf der Gegenseite sehen einen Kipppunkt erreicht. «Es ist im Moment dramatisch, wirklich dramatisch», sagt der bekannte Zürcher Strafverteidiger Thomas Fingerhuth. Das System stehe vor dem Kollaps.

Die Zahl der offenen Kriminalfälle, die bei den Staatsanwaltschaften im ganzen Land liegen bleiben, steigt Jahr für Jahr – weil ihnen das Personal fehlt. Und weil das Parlament in Bern immer neue Gesetzesartikel beschliesst, die mehr Aufwand bedeuten. Genaue Daten, um das Problem gesamtschweizerisch zu erfassen, fehlten bisher. Der Recherchedesk von Tamedia hat nun bei sämtlichen kantonalen Staatsanwaltschaften nachgefragt. Diese verzeichneten allein im letzten Jahr 545’546 neue Fälle. Die Zahl der Pendenzen belief sich im Jahr 2022 auf insgesamt 113’064. Fünf Jahre zuvor waren es noch 102’088. Allein im Kanton Zürich waren zuletzt mehr als 10’000 Fälle offen, genauso in Genf oder im Aargau.

Die Zahl der Anzeigen steigt, weil die Bevölkerung wächst und so auch das Konfliktpotenzial zunimmt. Währenddessen stagniert der Personalbestand in der Justiz – oder er geht gar zurück. Das trifft nicht nur auf die Staatsanwaltschaften zu. Schweizweit gibt es auch zu wenig Polizistinnen, Gerichtsmediziner, Gutachter oder Richterinnen. So kann jeder Straffall an ganz verschiedenen Stellen hängen bleiben, weil die zuständigen Spezialistinnen und Spezialisten sowieso schon einen hohen Aktenstapel abzuarbeiten haben.

Die viel zu langen Verfahren erschüttern dabei das Vertrauen der Gesellschaft in die Justiz. Denn sie führen nicht nur dazu, dass Beschuldigte milder sanktioniert werden oder gar straflos bleiben, so wie in den eingangs erwähnten Beispielen. Sie demütigen auch die Opfer, die eine gefühlte Ewigkeit auf eine gerechte Strafe hoffen. Tragisch ist dies unter anderem bei sexuellen Übergriffen. Doch genau dort verschärfe sich das Problem, sagt Christoph Ill, Erster Staatsanwalt im Kanton St. Gallen. Bei einem schweren Sexualdelikt sei die Wahrscheinlichkeit heute hoch, dass es nach vier Jahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sei. Und die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer nach vier Jahren vor einer zweiten Instanz nochmals aussagen müsse, sei ebenfalls gross. «Es ist offensichtlich, dass dies ein unhaltbarer Zustand ist», sagt Ill.

Auf der anderen Seite können lange Verfahren das Leben von Unschuldigen zerstören. Alberto Rossi hat es selbst erlebt – seinen echten Namen will er trotz Freispruch nicht in den Medien lesen.

«Man ist irgendwie doch schuldig. Die Leute denken, wenn da so lange ermittelt wurde, muss doch etwas dran sein.»

Alberto Rossi, ehemaliger Beschuldigter

Rossi wurde im Sommer 2004 verhaftet. Zu einer Zeit, als Mark Zuckerberg gerade Facebook gründete oder die Raumsonde Messenger zum Merkur aufbrach. Er wurde unter anderem der Geldwäscherei und anderer Finanzdelikte beschuldigt. Schwere Vorwürfe, die den Mann drei Jahre in Untersuchungshaft brachten. Insgesamt wurde 16 Jahre lang gegen Rossi ermittelt. Bis ihn das Bundesgericht 2020 komplett freisprach.

Facebook zählte da bereits Milliarden von Nutzern und die Messenger-Sonde hatte den Merkur längst erreicht. «Bei einem derart langen Verfahren kann man den Schaden gar nicht beziffern. Es ist einfach eine Katastrophe», sagt Rossi heute. Der Freispruch habe für ihn kaum noch einen Wert. «Man ist irgendwie doch schuldig. Die Leute denken, wenn da so lange ermittelt wurde, muss doch etwas dran sein.»

Die langen Strafverfahren stellten die Idee des Strafens fast schon grundsätzlich infrage, sagt Strafverteidiger Thomas Fingerhuth. «Eigentlich müsste auf eine Tat unverzüglich eine Strafe folgen.» Lange Verfahren führen laut Fingerhuth dazu, dass die Täter die Strafen am Schluss weniger akzeptierten. «Je länger es dauert, desto mehr wird die Tat relativiert, die sie begangen haben.»

Zudem sei das lange Warten für Beschuldigte «grausam». Erst vor kurzem hat Fingerhuth einen Mann verteidigt, der 14 Jahre lang warten musste, bis ein erstes Gericht seinen Fall überhaupt anschaute. «Schon nach wenigen Monaten Untersuchungshaft verliert ein Beschuldigter den Job, vielleicht läuft die Frau davon, die Kinder sieht er nicht mehr.»

Strafverteidiger Thomas Fingerhuth vor dem Bezirksgericht Horgen.

Eigentlich gilt in der Schweiz das sogenannte Beschleunigungsgebot, um übermässig lange Verfahren zu verhindern. Strafbehörden müssen Ermittlungen laut Gesetz «unverzüglich» in Angriff nehmen und Verzögerung begründen. Das ist ein zentraler Grundsatz im Rechtssystem.

Nur kann die Justiz dieses Versprechen zunehmend nicht mehr einlösen. Wenn laut Bundesgericht in einem Verfahren «eine von der Strafbehörde zu verantwortende krasse Zeitlücke zutage tritt», können den Tätern mildere Strafen winken. Und genau das passiert immer wieder, wie Gerichtsentscheide der letzten Jahre zeigen. Wobei auch Schwerverbrecher profitieren.

Mildere Strafe für Raser, Tierquälerin und Vergewaltiger

Das Thurgauer Obergericht reduzierte eine Strafe wegen Raufhandels und versuchter schwerer Körperverletzung im letzten Herbst deswegen um sechs Monate. Die Staatsanwaltschaft sei «über zwei Jahre untätig geblieben», heisst es in einem Entscheid des Bundesgerichts zum Fall.

An dieses gelangte auch ein Mann, der in Zürich wegen Nötigung verurteilt wurde. Wobei es vom Verdacht bis zum rechtskräftigen Urteil fast zehn Jahre dauerte. «Das ist entschieden zu lang», so das Bundesgericht. Auch dieser Täter erreichte eine geringere Strafe.

Im Aargau erhielten dieses Jahr ein Raser, eine Tierquälerin und auch ein Mann, der die öffentliche Sicherheit mehrfach mit Waffen gefährdet hatte, allesamt mildere Strafen, weil die Gerichte nach der Verhandlung zu lange brauchten, um das begründete Urteil zuzustellen. Wobei eine der beteiligten Richterinnen dies explizit mit einer generellen Überlastung begründete.

Ein Vergewaltiger wiederum erreichte in Basel eine «leichtgradige Strafminderung aufgrund der langen Verfahrensdauer». Zur Verzögerung führte unter anderem eine psychologische Begutachtung, die eineinhalb Jahre dauerte. Dazu schrieb das Bundesgericht diesen März: «Es ist notorisch, dass Gutachter chronisch überlastet sind.»

«Wir sagen dann: Diese möglicherweise strafbare Handlung untersuchen wir nicht, weil wir die Ressourcen nicht haben.»

Christoph Ill, Erster Staatsanwalt St. Gallen

Für die Strafverfolger selbst ist die Situation zunehmend unhaltbar. Viele sind frustriert, einige werden krank. Manche suchen einen neuen Job. Die Jahresberichte der kantonalen Staatsanwaltschaften, normalerweise eher eine trockene Lektüre, zeichnen zurzeit ein dramatisches Bild. Im Thurgau beklagen die Strafbehörden etliche Abgänge von Staatsanwälten, «weil für sie die sehr hohe Arbeitsbelastung unerträglich wurde». Erfahrener Ersatz sei jedoch kaum zu finden. Stattdessen müsse man oft direkt Studienabgänger rekrutieren, «die über keine oder nur sehr wenig Strafverfolgungserfahrung verfügen».

In Basel-Stadt regt die Aufsichtskommission über die Staatsanwaltschaft an, pensionierte Staatsanwälte befristet zu engagieren, um die Pendenzen abzuarbeiten. Die Rückstände hätten «besorgniserregende Höhe erreicht». 90 Verfahren musste jede Strafverfolgerin im letzten Jahr durchschnittlich abwickeln. Im Vorjahr waren es noch 67. Die Überlastung führe bei vielen Mitarbeitenden zu Frustration und mehr krankheitsbedingten Abwesenheiten. Einzelne Staatsanwälten seien «nahe an einem Burn-out oder leiden bereits darunter», steht im Bericht.

Im Wallis bearbeiten die Staatsanwälte zwar ständig mehr Fälle – und trotzdem steigt der Berg unerledigter Dossiers, «was beunruhigend ist», wie es im Jahresbericht heisst. In Solothurn gab es zuletzt einen Rekord an schweren Fällen, in Luzern hat sich der Arbeitsdruck zuletzt «nochmals markant verschärft».

Wenn sich die Situation in den nächsten Monaten und Jahren nicht entschärfen lässt, sind die Konsequenzen einschneidend. Dann wären die Staatsanwaltschaften gezwungen, eine Triage der Fälle vorzunehmen, also zu entscheiden, was sie untersuchen und was nicht. «Wir sagen dann: Diese möglicherweise strafbare Handlung untersuchen wir nicht, weil wir die Ressourcen nicht haben», sagt der Erste Staatsanwalt Christoph Ill. «Das ritzt die Rechtsstaatlichkeit insofern, als nicht mehr der Gesetzgeber, also das Parlament in Bern, sagt, was unter Strafe steht und bestraft werden muss, sondern wir von der Staatsanwaltschaft. Das ist ein Eingriff in die Gewaltenteilung.»

Dass es im Rechtsstaat Schweiz so weit kommen konnte, hat verschiedene Gründe. «Es geht nicht nur um die steigenden Fallzahlen, sondern auch darum, dass der einzelne Fall immer intensiver wird», sagt Jacqueline Bannwarth, Erste Staatsanwältin im Kanton Basel-Landschaft. «Ich hatte vor 20 Jahren ein Verfahren wegen sexueller Handlungen mit einem Kind. Da brauchte ich für die gesamten Akten einen Bundesordner.» Heute seien es für den gleichen Fall bis zu acht. «Einfach, weil alles sehr viel formalistischer geworden ist». 

Zudem nutzten die Anwältinnen und Anwälte die Beschwerdemöglichkeiten ausgiebig, sagt Christoph Ill von St. Gallen: «Man kann gegen alles, was wir machen oder nicht machen, Beschwerde einlegen.» Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verlange, dass ein Verfahren als Gesamtes fair sein müsse. Diese Gesamtbetrachtung sei wichtig, aber sie finde im Schweizer System so nicht statt, sagt Ill. Da werde jeder kleinste Schritt isoliert im Detail überprüft – und das verlängere die Verfahren teilweise enorm.

Der Berner Generalstaatsanwalt Michel-André Fels sieht eine Verkomplizierung «ohne triftige Gründe».

Der Bund hat die Verfahrensrechte der Beschuldigten in den letzten Jahren deutlich ausgebaut. So hat heute jeder Verdächtigte das Recht, mit dabei zu sein, wenn ein Mitbeschuldigter befragt wird. «Das ist zum Beispiel bei Bandenkriminalität nur schwer zu koordinieren, und die Verfahren brauchen deshalb länger», erklärt Strafverfolgerin Bannwarth. Beschuldigte dürfen auch verlangen, dass ihre digitalen Daten gesiegelt werden, wenn man ihr Handy oder den PC beschlagnahmt. Erst ein Gericht gibt dann den Ermittlern die Erlaubnis, die Daten zu sichten – oder auch nicht. «Solche Anträge haben sich in nur zwei Jahren verdoppelt bei uns, und sie lösen immer ein separates Verfahren aus.»

Hinzu kommen neue Kriminalitätsfelder wie Cybercrime. Und immer mehr Paragrafen. 2016 wurde der Sozialhilfebetrug als neuer Artikel ins Strafgesetz aufgenommen – nun gibt es jährlich über 800 entsprechende Strafanzeigen. Seit 2019 ist zudem das lebenslängliche Tätigkeitsverbot für Pädophile bei Berufen mit Kindern in Kraft, das immer von einem Gericht geprüft werden muss.

Und im Jahr 2024 sind schon wieder neue Regeln für Strafverfahren geplant, die einen Mehraufwand für die Behörden bedeuten. Ab dann sollen die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte deutlich mehr Einvernahmen durchführen und auch Fälle im Zivilrecht bearbeiten. Für die Schweizerische Staatsanwälte-Konferenz (SSK) sind diese Neuerungen «eine Verkomplizierung der Rechtsanwendung weitgehend ohne triftige Gründe», wie ihr Präsident, der Berner Generalstaatsanwalt Michel-André Fels, auf Anfrage sagt.

Der Bund sorgt für mehr Arbeit – die Kantone knausern

Beschlossen werden die Neuerungen jeweils in Bern. Das Bundesparlament schafft neue Gesetze, muss sich dann aber nicht darum kümmern, wie man den Mehraufwand stemmen soll. Denn für genügend Ressourcen in der Strafverfolgung sind die Kantone zuständig. Doch die sind oft auf Sparkurs.

«Die Mehrheit der Kantone dotieren ihre Staatsanwaltschaften nicht genug, um die immer anspruchsvolleren Aufgaben bewältigen zu können», sagt Fabien Gasser, Generalstaatsanwalt von Freiburg und Vizepräsident der SSK. Wobei neben den Staatsanwaltschaften auch andere Stellen mit ihren Forderungen nach mehr Personal ins Leere laufen. Am Institut für Rechtsmedizin in Zürich beispielsweise verlangen die Zuständigen seit Jahren mehr Stellen – ohne Erfolg. Obwohl dies die Gefahr birgt, dass sich die forensischen Gutachten verzögern, weil das Fachpersonal fehlt.

 «Wenn ein Parlament neue Gesetze erlässt, gibt es nur dann einen Mehrwert an Rechtsstaatlichkeit, wenn auch die Ressourcen da sind, um sie umzusetzen», sagt der St. Galler Chefermittler Christoph Ill. Seine Forderung ist umso dringlicher, als den Staatsanwaltschaften und den Polizeikorps die Leute davonlaufen. Der Arbeitsmarkt ist ausgetrocknet, die Leute finden in der Privatwirtschaft bessere Bedingungen, weniger Schichtarbeit und Pikett, teils bessere Löhne.

Bisher hat die Politik ungenügend auf die Hilferufe der Ermittler reagiert. Doch das gehe jetzt nicht mehr, zu prekär sei die Situation, sagt Strafverteidiger Thomas Fingerhuth und wartet mit einem Vorschlag auf. Um Lösungsansätze zu diskutieren, sollten sich jetzt Strafverteidiger, Richter und Staatsanwältinnen und Staatsanwälte an einen Tisch setzen, jeder und jede seine eigenen Interessen draussen lassen – und dann gemeinsam das Gesetz durcharbeiten, sagt der Zürcher Rechtsanwalt.

Unterstützung erhält er von der Staatsanwälte-Konferenz. Eine objektive Situationsanalyse und darauf abgestützte Massnahmen statt stetes Flickwerk seien überfällig, sagt SSK-Präsident Michel-André Fels. «Eine konstruktive Gesamtschau durch alle Partner der Strafverfolgung wäre zu begrüssen. Jedoch nur, wenn dies endlich mit einem vorurteilslosen Blick auf die jeweiligen gesetzlichen Rollen geschieht», sagt Fels.

Und Strafverteidiger Fingerhuth fügt an: «Es muss gelingen, die Regeln so zu ändern, dass die Verfahren schneller gehen. Und wir den Kollaps des Systems abwenden.»

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