Gewagte EinschätzungSchweizer Geheimdienst hielt Putin-Regime für stabil
Der Nachrichtendienst des Bundes beurteilte die russische Führung bis am vergangenen Freitag als «nicht ernsthaft gefährdet». Den Wagner-Aufstand sah der Geheimdienst nicht kommen.
Manchmal kann sich die Weltlage sehr schnell ändern. Diese Erfahrung hat übers Wochenende der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) gemacht. Den Putschversuch des Söldner-Anführers Jewgeni Prigoschin hatte der Schweizer Geheimdienst nicht kommen sehen. (Lesen Sie dazu: Die Revolte der Wagner-Truppe – Welches Russland bleibt nach diesem bizarren Wochenende übrig?)
Damit ist er zwar bei weitem nicht allein unter den professionellen Deutern des globalen Geschehens. Aber beim NDB ist es besonders augenfällig, dass er nicht mit der Möglichkeit eines Umsturzes in Russland rechnete. Denn ausgerechnet am Freitagabend war sein jährlicher Lagebericht, mit leichter Verspätung, bereit zum Versand. Als Vorabinformation wurde er (mit Sperrfrist Montag) sogleich verschickt.
Kurz darauf begann in Russland der Putsch der Wagner-Truppen. Und der NDB-Lagebericht wirkte in einem Kernpunkt veraltet, bevor er öffentlich wurde. Denn darin wird mehr als einmal betont, das Putin-Regime erweise sich als stabil. «Der Krieg gegen die Ukraine wird Russland gewaltige Kosten auferlegen», heisst es beispielsweise, «aber die Stabilität des Regimes ist bisher nicht ernsthaft gefährdet.» Der staatliche Repressionsapparat sei «intakt», die Opposition «zerschlagen».
Übers Wochenende war das Putin-Regime in den Augen vieler Beobachterinnen und Beobachter aber durchaus gefährdet – jedoch nicht durch die Opposition, sondern durch Prigoschins bislang loyale Wagner-Truppe.
Der NDB hat die Gefahr eines inneren Konflikts in Russland nicht ganz unerwähnt gelassen. «Ein Ringen verschiedener Machtgruppierungen oder ein Bürgerkrieg würden die Region auf Jahre hinaus destabilisieren», heisst es im Lagebericht auch. Doch diese Einschätzung erfolgt eher beiläufig – im Zusammenhang mit den USA, die an einer solchen Entwicklung kein Interesse hätten.
Atomwaffen «sehr unwahrscheinlich»
Der russische Überfall auf das Nachbarland ist eindeutiger Schwerpunkt der Schweizer Geheimdienst-Arbeit – und das dürfte einige Zeit so bleiben. Der NDB hält es für «unwahrscheinlich, dass bis Ende 2023 der Krieg Russlands gegen die Ukraine militärisch entschieden wird». Ein langwieriger Konflikt zeichne sich ab. Russland sei auch durch militärische Rückschläge nicht von seinen Zielen und auch vom «Krieg gegen den Westen» abzubringen. Als «sehr unwahrscheinlich» schätzt der NDB den Einsatz russischer Atomwaffen in der Ukraine ein. Die Wahrscheinlichkeit würde erst steigen, wenn sich Russland infolge des Krieges existenziell bedroht sähe.
Der NDB rechnet eher mit einem Waffenstillstand als mit einer militärischen Entscheidung. Zumindest dürfte nach seiner Einschätzung der Druck westlicher Unterstützerländer zunehmen und damit die Möglichkeit, dass die Ukraine mit dem Angreifer verhandelt.
Die Bedrohung durch russische Spionage bleibe «hoch», so der Bericht.
Der NDB warnt vor russischer (und chinesischer) Spionage. Die Bedrohung bleibe «hoch», so der Bericht – auch für das Personal, das die Schweiz im UN-Sicherheitsrat vertritt. (Lesen Sie weiter: Unter Decknamen für den KGB – Putins Patriarch war Spion in der Schweiz)
Viele europäische Staaten hätten nach dem Mordversuch auf einen Doppelagenten in England 2018 und als Reaktion auf den Angriff auf die Ukraine zahlreiche als Diplomaten getarnte russische Spione ausgewiesen. Damit hätten sie die russischen Bemühungen «geschwächt, teilweise empfindlich». Gemäss NDB dürfte Russland bei zunehmender Kriegsdauer weniger Hemmungen haben, in Europa mehr und gewaltsamere verdeckte Operationen durchzuführen. Verteidigungsministerin Viola Amherd und der ihr unterstellte NDB hätten gerne ebenfalls Massnahmen ergriffen, aber insbesondere das Aussendepartement mit Bundesrat Ignazio Cassis stellt sich quer.
Von den rund 220 diplomatischen Vertreterinnen und Vertretern Russlands in Bern und Genf ist gemäss Lagebericht mindestens ein Drittel nachrichtendienstlich aktiv. Die Arbeit dieser Undercover-Agentinnen und -Agenten sei aber schwieriger geworden, da sie unter verstärkter Beobachtung stünden und mehr Misstrauen erführen. Zum Vergleich: Der NDB verfügt über rund 420 Mitarbeiter.
Dem Dienst ist es im vergangenen Jahr vom Bundesverwaltungsgericht und von Bundesratsvertretern 92-mal genehmigt worden, zu seinen schärfsten Waffen wie Abhören oder Hacken zu greifen. 71-mal geschah dies im Kampf gegen verbotenen Nachrichtendienst. Dies ist eine markante Steigerung: Noch 2021 waren erst 64 sogenannte genehmigungspflichtige Massnahmen freigegeben worden (davon 56 gegen verbotenen Nachrichtendienst).
«Schock für das System»
An einer Medienkonferenz zur Präsentation des Lageberichts am Montag morgen nahm NDB-Direktor Christian Dussey eine Einschätzung zur aktuellen Lage in Russland vor. Er bezeichnete die Ereignisse vom Wochenende als «substanziellen Schock für das System» und als «grösste innenpolitische Herausforderung» für Putin. Es sei aber zu früh für ein Urteil, vieles sei noch nebulös. Das Putin-Regime sei «zur Zeit noch stabil».
Sein Dienst sei nicht überrascht von der Ereignissen am Samstag in Russland, sagte Dussey in einem Kurzinterview nach der Medienkonferenz. Der NDB-Direktor verweist auf den Druck aus Moskau auf Einheiten wie der Wagner-Kämpfer und auf das Ultimatum an «Freiwilligenverbände», sich bis 1. Juli dem Verteidigungsministerium zu unterstellen. Entsprechend ging der Schweizer Geheimdienst davon aus, dass in diesen Tagen etwas passieren würde, aber er wusste nicht, was passieren würde.
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