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Schweiz und EU
Das Wichtigste zu den geplanten Verhandlungen

Bundesrat Guy Parmelin, Bundesrat Ignazio Cassis, und Bundesraetin Elisabeth Baume-Schneider, von links nach rechts, kommen zu einer Medienkonferenz ueber das Verhandlungsmandat mit der Europaeischen Union, am Freitag, 15. Dezember 2023, vor das Bundeshaus in Bern.(KEYSTONE/Anthony Anex)
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Ignazio Cassis beginnt auf Italienisch. Es ist sein Moment, darauf hat er als Aussenminister rund zwei Jahre lang hingearbeitet. Er kann die Resultate präsentieren von 11 Treffen hochrangiger Diplomatinnen und Diplomaten, 46 Gesprächen zum Ausfeilen technischer Details und 70 zusätzlichen Treffen innerhalb der Schweiz.

«Das ist eine wichtige Etappe», sagt Cassis vor den Medien, mit betont ruhiger Stimme. Erkennbar ist die Bedeutung auch daran, dass gleich drei Bundesratsmitglieder vor die Medien treten: Ignazio Cassis, Guy Parmelin und Elisabeth Baume-Schneider.

Bisher war alles geheim. Nun veröffentlicht der Bundesrat sogar den Entwurf des Verhandlungsmandats – ein Novum. Cassis hält auch eine personelle Überraschung bereit: Chefunterhändler für die Schweiz wird nicht etwa Staatssekretär Alexandre Fasel, der diesen Sommer Livia Leu abgelöst hat. Sondern Patric Franzen, der Leiter der Europa-Abteilung im Aussendepartement (EDA). Fasel soll im Hintergrund wirken. 

Der Aussenminister erklärt, warum die Schweiz ein neues Abkommen brauche: Die instabile internationale Lage, der Schweizer Wohlstand, der gesichert werden solle – beides verlange nach stabilen Beziehungen mit der EU.

Die Ergebnisse der bisherigen Gespräche haben die EU-Kommission und der Bundesrat in einer gemeinsamen Erklärung festgehalten. Das 13-seitige Dokument soll sicherstellen, dass eine ausreichende gemeinsame Basis für Verhandlungen vorhanden ist. Was darin vereinbart wurde, wollen die Schweiz und die EU nicht mehr grundsätzlich infrage stellen. Bundespräsident Alain Berset schreibt aber in einem Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: «Dabei legt der Bundesrat wert auf die Feststellung, dass das Common Understanding nicht als «rote Linie» für künftige Verhandlungen gelten darf.»

Die Frage, ob es überhaupt noch Spielraum für Verhandlungen gibt, bejaht Cassis. Es seien nur «Landezonen» definiert worden. «Zwischen Landezone und Landepunkt gibt es einen Unterschied.»

Die wichtigsten Themen

Grundsätzliches:

  • Anders als beim Rahmenabkommen gibt es einen Paketansatz. Dabei sind die institutionellen Fragen in jedem einzelnen Binnenmarktabkommen geregelt. Das Paket ermöglicht aus Sicht des Bundesrates ein breiteres «Geben und Nehmen».

  • Die Schweiz soll künftig EU-Recht dynamisch übernehmen. Das heisst, wenn die EU ihre Regulierung weiterentwickelt, sollte die Schweiz ihre Gesetze auch anpassen. Dies nur in Bereichen, in denen es Abkommen zwischen der Schweiz und der EU gibt. Falls die Schweizer Bevölkerung ein solches Gesetz dann an der Urne ablehnt, kann die EU «verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen» ergreifen. 

Personenfreizügigkeit:

  • Bei der Personenfreizügigkeit sollen für die Schweiz gewisse Ausnahmen gelten. Das Daueraufenthaltsrecht, das EU-Bürgern nach fünfjährigem Aufenthalt zusteht, soll nur Erwerbstätigen offenstehen. Wer sich nicht um Arbeit bemüht, soll das Daueraufenthaltsrecht verlieren können. Ausschaffungen gemäss der Ausschaffungsinitiative wären weiter möglich. Diese Punkte betreffen die sogenannte Unionsbürgerrichtlinie. 

Lohnschutz: 

  • Beim Lohnschutz bekennen sich beide Seiten zum Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Die Erklärung hält auch fest, dass die Schweiz von neuen EU-Regeln in diesem Bereich nicht betroffen wäre, wenn diese den Lohnschutz in der Schweiz «in bedeutender Weise schwächen» würden. Cassis sieht in der sogenannten «Nicht-Regressions-Klausel» einen bedeutenden Fortschritt gegenüber dem Rahmenabkommen.

  • Kontrollen durch paritätische Kommissionen (Gewerkschaften und Arbeitgeber) gegen Lohndumping sollen weiterhin möglich sein, wenn sie «verhältnismässig» und «nicht-diskriminierend» sind. EU-Firmen, die in der Schweiz Aufträge ausführen, müssen sich wie bisher vorgängig anmelden. Die Frist soll aber von acht auf vier Tage verkürzt werden. 

Staatliche Beihilfen:

  • Regeln zu staatlichen Beihilfen respektive Subventionen soll es nur in drei Bereichen geben: beim Luft- und Landverkehr und beim Strom. Hier sind zudem Ausnahmen möglich. Wenn Bund oder Kantone neue Beihilfen beschliessen, müssten sie diese einer neuen Überwachungsbehörde melden.

Neue Abkommen:

  • Beide Seiten wollen neue Abkommen zu Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit aushandeln. Zum Strom haben die Schweiz und die EU vereinbart, dass Haushalte und kleine Unternehmen den Strom nicht auf dem freien Markt beziehen müssen, sondern weiterhin auf eine Grundversorgung zählen können. Bei der Gesundheit wird ein Koordinations- und kein Marktzugangsabkommen angestrebt. Die Patientenfreizügigkeit ist also kein Thema.

Forschung und Bildung: 

  • Die EU ist bereit für eine Übergangslösung zur Forschungszusammenarbeit, sobald beide Seiten das Verhandlungsmandat verabschiedet haben. Damit könnten sich Forschende 2024 wieder für Horizon-Programme oder für Austauschsemester im Rahmen von Erasmus+ bewerben. Der Zugang ist aber befristet und abhängig vom Verhandlungsfortschritt beim Paket. 

Das passiert im Streitfall:

  • Bei Streitigkeiten über die Anwendung bilateraler Abkommen kommt ein Schiedsgericht zum Einsatz, in dem beide Seiten vertreten sind. Die Interpretation von EU-Recht obliegt dem Europäischen Gerichtshof. Seine Auslegung ist bindend für das Schiedsgericht.

Weitere Punkte:

  • Die Schweiz soll stetig finanzielle Beiträge leisten, die für den Zusammenhalt der EU eingesetzt werden – etwa für die Wirtschaftsförderung in osteuropäischen Staaten. 

  • Anders als beim Rahmenabkommen ist eine Modernisierung des Freihandelsabkommens von 1972 in der Erklärung kein Thema. 

  • Die Schweiz soll den internationalen Bahnverkehr öffnen: Künftig sollen ausländische Bahnunternehmen eigenständig Verbindungen in die Schweiz anbieten dürfen.

Das sind die Reaktionen

Die SVP spricht in einer Medienmitteilung von einem «vergifteten Weihnachtspaket». Sie will jede institutionelle Anbindung an die EU bekämpfen. Der neue Ansatz sei «alter Wein in neuen Schläuchen». Sie kritisiert insbesondere die Rolle des Europäischen Gerichtshofes. Und die Bevölkerung könne zwar bei der Übernahme von EU-Recht abstimmen, dies aber sei eine reine Farce, weil Strafen drohen würden.

Ob das Ergebnis der Verhandlungen dereinst in einer Volksabstimmung Chancen hat, hängt stark davon ab, wie sich die Linke dazu positionieren wird. Ihr ist vor allem der Lohnschutz wichtig – sieht sie den nicht gewährleistet, wird sie für ein Nein kämpfen. Vorerst geht es jedoch erst um die Frage, worüber die EU und die Schweiz noch verhandeln sollen.

Die SP ist grundsätzlich einverstanden damit, dass die Schweiz EU-Recht künftig dynamisch übernimmt – auch betreffend Personenfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit. Das sei ein grosser Schritt, sagt Co-Präsident Cédric Wermuth. Nun erwarte die SP, dass sich auch die anderen bewegen würden. 

Zum einen soll der Bundesrat das Verhandlungsmandat in mehreren Punkten präzisieren. Zum anderen fordert die SP, einen gesetzlich abgesicherten, inländischen «Anti-Erosions-Pakt». Für den Fall, dass die Schweiz künftig auf bestimmte Lohnschutzmassnahmen verzichten muss, soll der Bundesrat eine gleichwertige, europarechtlich kompatible Alternative vorschlagen.

Seit Monaten finden Gespräche mit Gewerkschaften und Arbeitgebern zum Lohnschutz statt, unter der Leitung von Staatssekretärin Helene Budliger Artieda. In einem Kritikpunkt sind sich die Sozialpartner einig: Die aktuelle Regelung zu den Spesen reiche nicht aus. Budliger Artieda sagt, zum Thema Spesen gebe es weitere Gespräche mit der EU. «Aber wir sind auch auf der Suche nach innenpolitischen Lösungen.»

Von der FDP und aus der Wirtschaft sind am Freitag positive Stimmen zu hören. Economiesuisse schreibt in einer Mitteilung, die Ziele der Schweizer Wirtschaft könnten mit dem «Paket Bilaterale III» erreicht werden. Es stelle unter anderem sicher, dass die Schweiz langfristig am EU-Binnenmarkt teilnehmen könne. Und der Abschluss eines Stromabkommens stärke die Versorgungssicherheit.

So geht es weiter – und das sagt die EU

Zum Entwurf des Verhandlungsmandates konsultiert der Bundesrat nun die Aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments, die Kantone sowie die Sozial- und die Wirtschaftspartner. In zwei bis drei Monaten soll das Mandat verabschiedet werden. Danach können die Verhandlungen starten. Beide Parteien haben sich zum Ziel gesetzt, sie bis Ende 2024 abzuschliessen. 

In Brüssel sagt EU-Kommissionsvize Maros Sefcovic, er begrüsse den Beschluss des Bundesrates sehr – und äussert sich zum Fahrplan: «Ich denke, dass es möglich ist, und wir den Ehrgeiz haben müssen, im nächsten Jahr abzuschliessen.» Es sei wichtig, die positive Atmosphäre und den Schwung aus den Sondierungen zu bewahren.

Sefcovic sagt, er sei zuversichtlich, da die Landezonen klar identifiziert seien: «Wir haben jetzt ein klares Verständnis dafür, was für die Schweiz und was für die Europäische Union akzeptabel ist.» Die EU-Kommission dürfte den Entwurf ihres Verhandlungsmandats nächsten Mittwoch verabschieden. Die Zustimmung des Ausschusses der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten gilt als Formsache.