Journalist der «Financial Times» Britischer Reporter über Schweizer Wahlen: «Dieses geradezu magische System»
Der Schweiz-Korrespondent des britischen Weltblatts reist nach vier Jahren weiter. Aber vorher zieht er Bilanz: über schmelzende Gletscher, die erstarkende Rechte – und Friedrich Dürrenmatt. Ein Essay.
Autor Jean-Martin Büttner hat Sam Jones’ Essay auf Deutsch übersetzt. Hier finden Sie das englische Original.
Computerfehler hin oder her: Dieser Wahlsonntag gehörte der SVP.
Vor fast genau vier Jahren bin ich in die Schweiz gezogen. Die damaligen Wahlen drehten sich, wir erinnern uns, um die Grünen.
In Kürze werde ich nach Berlin versetzt. Und jetzt, da meine Zeit als Auslandkorrespondent in der Schweiz zu Ende geht, frage ich mich: Welche dieser beiden Wahlen ist typischer für dieses Land? Und welche von ihnen sagt seine Zukunft besser voraus?
Der rechte Populismus erstarkt wieder
Überall in Europa erstarkt der konservative Populismus wieder. Das Schweizer Wahlergebnis vom Sonntag, bei dem 100’000 Wählende mehr für die SVP gestimmt haben als vor vier Jahren, ist Teil eines kontinentalen Trends.
Wie ihre geistigen Verbündeten in Europa bedient sich die SVP einer scharfen Rhetorik zu Einwanderung und politischer Korrektheit. Aber sie unterscheidet sich in einem entscheidenden Punkt von anderen rechten Parteien: Sie hat nicht die Absicht, das herrschende politische System zu zerschlagen.
Zwar lassen sich die Ursachen für den Erfolg der SVP nachvollziehen: Inflation, Pandemie, Energiekrise und natürlich die illegale Einwanderung. Und obwohl das offensichtlich die Treiber ihres Erfolgs sind, kann man als Aussenstehender nicht übersehen, wie widerstandsfähig die Schweiz angesichts dieser Herausforderungen war.
Denn so viel ist klar: Die Schweiz, wie sie auf den Wahlplakaten der SVP dargestellt wird – ein von Gewaltkriminalität zerrissenes und aus allen Nähten platzendes Land –, ist eine Kreation. Eine Kreation, die meiner Erfahrung nach so stark von der Realität abweicht, dass man manchmal leicht vergisst, dass fast ein Drittel der Schweizerinnen und Schweizer sie für real hält.
Wobei nicht nur die Rechten zu Behauptungen neigen. In Zürich, wo ich wohne, lese ich Graffiti wie «Zerschlagt den Kapitalismus!» oder «Geschlecht ist Gewalt!». Und denke mir, wie wenig solche Sätze mit der modernen Schweiz zu tun haben. Mit einem der stabilsten und gleichberechtigten Länder der Welt. Mit denkbar glücklichen, vermögenden, bestens ausgebildeten und sicher lebenden Menschen.
Dauernd im eigenen Reduit
So gesehen, muss der Blick in die Zukunft der Schweiz ein optimistischer sein. Die Grünen haben 2019 einen Sieg errungen. Die SVP legt dafür 2023 wieder zu. So what? Das geradezu magische politische System der Schweiz wird alles wieder ausgleichen.
Und doch kann einem der Erfolg der SVP zu denken geben. In meinem Büro hängt ein kleiner Holzschnitt von Ernst Ludwig Kirchner, den ich sehr schätze. Er zeigt den «Briggel», eine Figur aus einer Kurzgeschichte des Schweizer Schriftstellers Jakob Bosshart. Bosshart traf Kirchner in Davos. Der Briggel auf meinem Bild hält eine kleine Eule in der Hand und ist von Schweizer Wäldern umgeben. Der Briggel ist ein sanftmütiger, wenn auch missverstandener Stotterer. Dessen Güte immer dann aufleuchtet, wenn er sich aus der Welt zurückzieht.
Das sprach mich an, als ich das Bild kaufte – zu einer Zeit, als ich mich selber nach einem zurückgezogenen Leben sehnte. Was ein Jahr vor Ausbruch der Pandemie nicht ohne nachträgliche Ironie ist.
Dennoch glaube ich, dass die Geschichte des Briggel auch etwas über die Schweizer Seele aussagt. Über ihre Tendenz zum Rückzug und zur Isolation. Aus dem tiefsitzenden Gefühl heraus, dass dieser Rückzug Freiheit und Frieden garantiere.
Die Beziehung der Schweiz zur Welt im letzten, so gewaltsamen Jahrhundert gestaltete sich für sie sehr erfolgreich. Dennoch lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob die jetzigen Probleme nicht völlig neue Herausforderungen darstellen. Und ob der Schweizer Rückzug für das Land immer noch die richtige Haltung ist.
Mit grüner Politik konfrontiert zu sein, kann sich anfühlen, wie einen Veganer an eine Dinnerparty einzuladen.
Es ist zurzeit beliebt, Forderungen grüner Politik mit Überdruss zu quittieren. Ich kann das verstehen; mit grüner Politik konfrontiert zu sein, kann sich anfühlen, wie einen Veganer an eine Dinnerparty einzuladen.
Als 41 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer im Juni dieses Jahres gegen das Klimagesetz stimmten, war das ein Ausdruck dieser Frustration. Viele im Land hatten es satt, dass urbane Gutmenschen wie ich ihnen vorschreiben sollten, was gut sei für sie. Wäre ich ein Schweizer Bauer, der auf seinem Hof im Einklang mit der Umwelt lebt: Ich würde mich auch über jeden Besserwisser-Velofahrer aus Zürich ärgern, der meinen Traktor verbieten will, um den Planeten zu retten.
Das aber ändert nichts an der Tatsache, dass an unserem Klima einiges nicht stimmt. Und dass die fossilen Brennstoffe daran schuld sind.
Ich habe mehrere Reportagereisen in die Berge unternommen, um mir den Zustand der Schweizer Gletscher anzuschauen. Letztes Jahr um diese Zeit war ich in Les Diablerets. Es war eine traurige Erfahrung. Natürlich ist der Klimawandel ein globales Problem. Aber die Schweiz ist mittendrin. Und daraus gibt es keinen Rückzug.
Die Neutralität der Schweiz hatte im Kalten Krieg ihre Funktion. Aber hat sie diese noch heute?
Schlimmer als ein Verbrechen
Was mich zu einem weiteren Schweizer Dilemma bringt: der Neutralität. Auch wenn das Thema im Wahlkampf keine grosse Rolle gespielt hat: Es wird auf der Welt immer unangenehmer für das kleine Land. «Die Schweiz befindet sich in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie ist damit konfrontiert, was Neutralität bedeutet.» Das sagte Scott Miller, der US-Botschafter in Bern, im März zur NZZ.
Diplomatisch klingt das nicht. Man kann sich darüber streiten, ob die Worte wahr sind. Klar ist: Die Schweiz darf nicht ignorieren, was da gesagt wurde. Und vor allem: von wem. Die Neutralität des Landes hatte im Kalten Krieg ihre Funktion. Aber hat sie diese noch heute? In einer vernetzten Welt, die uns jeden Tag zwingt, uns via die Bildschirme unserer Smartphones mit globalen Fragen von Moral bis Wirtschaft auseinanderzusetzen?
Das kann in der Schweiz zu grotesken Situationen führen. So verhängt die Politik Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Zugleich weigert man sich, auch nur die kleinste Militärhilfe für die ukrainischen Opfer der russischen Aggression zu leisten.
Die Folgen: Russland hält die Schweiz für einen Feind. Und der Westen hält sie für einen Feigling. Mich erinnert das an eine Bemerkung von Charles-Maurice de Talleyrand, einem französischen Diplomaten während der Revolution: «C’est pire qu’un crime, c’est une faute.» Das ist schlimmer als ein Verbrechen, es ist ein Fehler.
Die Schweiz und ihre gescheiterte Bank
Apropos Fehler: Wir müssen auch über die Credit Suisse sprechen. Als ich Anfang des Jahres in der «Financial Times» über den Untergang der Bank schrieb, reagierten einige Leser unwirsch. Ich würde die Bedeutung der CS für das Land überschätzen, fanden sie. Der durchschnittliche Schweizer habe vielleicht eine Zuneigung zur Postfinance. Die CS aber sei im Land überhaupt nicht beliebt.
Das mag alles stimmen. Aber mein Punkt ist ein anderer: dass die Garanten des Schweizer Wohlstands riesige, global aktive Konzerne sind. Es ist bequem, zu glauben, ihre Erfolge und Gewinne hingen damit zusammen, dass sie solide Schweizer Werte verkörperten. Und ihr Niedergang immer die Folge von korrumpierenden ausländischen Einflüssen sei.
Wie lange kann die Schweiz ihre Wirtschaft noch so schlecht regulieren und so tun, als lägen die Probleme immer im Ausland und nie im Inland?
Dabei liegt der Kern des CS-Niedergangs in der Spannung, die sich in diesem Trugschluss verbirgt: Die Bank wurde jahrelang durch den internen Streit zwischen ihrem «Schweizer» Kern und ihren globalen Mitarbeitern geschwächt. Anders gesagt: Die Credit Suisse wusste nicht, was sie sein sollte.
Weiss es die Schweiz? Wie lange kann das Land seine Wirtschaft noch so schlecht regulieren und so tun, als lägen die Probleme immer im Ausland und nie im Inland?
Dürrenmatt hatte recht
So gesehen, drückt sich im Erfolg der SVP am vergangenen Wochenende ein gut nachvollziehbarer Wunsch aus. Es ist der Wunsch nach Sicherheit und Komfort in einer komplizierten Welt. Wie Friedrich Dürrenmatt sagte: Werden Menschen mit den Verwirrungen der Welt konfrontiert, greifen sie auf den Glauben zurück.
1990, zur 700-Jahr-Feier der Schweiz, hielt Dürrenmatt eine berühmt gewordene Rede. Er wandte sich darin an Václav Havel, den antikommunistischen Dissidenten, der Präsident der freien Tschechoslowakei wurde. Und der in der Schweiz eine Auszeichnung erhielt.
Für die meisten Schweizer, sagte Dürrenmatt damals, verkörpere die Schweiz möglicherweise Havels Utopie eines freien Landes: gebildet, wohlhabend, unabhängig. Aber die Schweiz, sagte er, sei auch ein Gefängnis.
Ich werde das Leben in der Schweiz sehr vermissen. Aber der Abschied, so bittersüss er ist, fühlt sich auch wie eine Rückkehr in die Realität an.
Ich denke, Dürrenmatts Worte haben grosse Relevanz. In seinen Worten ausgedrückt: «Weil alles ausserhalb des Gefängnisses übereinander herfiel und weil sie nur im Gefängnis sicher sind, nicht überfallen zu werden, fühlen sich die Schweizer frei, freier als alle andern Menschen, frei als Gefangene im Gefängnis ihrer Neutralität. Es gibt nur ein Problem für dieses Gefängnis, nämlich, zu beweisen, dass es kein Gefängnis ist.»
Erstaunlich aktuell.
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