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Fragwürdige Strafverfolgung
Schweiz fahndet europa­weit nach Rentner (73), im Ausland schüttelt man den Kopf

«Catch Me If You Can?» Am Amsterdamer Flughafen Schiphol wird Stanley Brown festgenommen.
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In Kürze:
  • Ein 73-jähriger Rentner wird von der Schweizer Justiz international gesucht.
  • Er hat sich in zahlreichen E-Mails beleidigend geäussert.
  • Portugal und die Niederlande lehnten seine Auslieferung wegen Verhältnismässigkeitsbedenken bisher ab.
  • Die Schweizer Behörden verteidigen ihr Vorgehen.

Stanley Brown* schreibt gerne E-Mails. Er tut dies mehrmals am Tag, oft an mehrere Empfänger gleichzeitig und immer wieder in expliziter und teils beleidigender Sprache. Er bezeichnet Leute, die er verabscheut, als «Nazis», «Scharlatane», «Idioten» oder «Parasiten». Und er wirft ihnen in seinen Mails strafbare Handlungen wie Erpressung, Betrug oder Bestechung vor.

Brown ist 73 Jahre alt und schweizerisch-britischer Doppelbürger. Er lebt derzeit in Portugal. Zuvor arbeitete er über 30 Jahre lang als Finanzexperte in der Schweiz. Diese Redaktion konnte in den vergangenen Tagen und Wochen mehrmals mit Brown sprechen. Seine Zitate für diesen Artikel zog er allerdings kurz vor der Publikation zurück. Der Rentner sieht sich als Opfer der Schweizer Justiz – und wer diese Darstellung nicht bedingungslos teilt, verweigert sich aus seiner Sicht der objektiven Wahrheit.

Tatsächlich wirft seine Geschichte Fragen auf, wie verhältnismässig der Fahndungseifer der Schweizer Ermittlungsbehörden in diesem Fall noch ist. Im europäischen Ausland schüttelt man nur den Kopf darüber, wie dieser Mann auf der Liste von «Switzerland Most Wanted» landen konnte.

Das Bundesamt für Justiz (BJ) hat Brown Ende 2020 zur internationalen Fahndung ausgeschrieben. Sein Name ist seither im Schengener Informationssystem vermerkt. Sobald er eine europäische Grenze passiert, wird er verhaftet.

Zweimal wurde Brown aufgrund des Haftbefehls bereits festgenommen, zweimal kam er wieder frei. Denn über die Schwere seines Vergehens gibt es bis heute höchst unterschiedliche Wahrnehmungen.

Geschäftsstreit wird zum Straffall

Das Auslieferungsersuchen geht auf ein Verfahren zurück, das die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl gegen Brown führt. Den Fall in all seinen Details und Wendungen auszuleuchten, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Hier deshalb die Kurzversion: Kurz vor seiner Pension hilft Finanzexperte Brown einem Geschäftspartner bei einem Aktieninvestment. Der genaue Inhalt ihrer Vereinbarung ist umstritten. Gemäss Browns Darstellung hat der Geschäftspartner ihm eine Provision versprochen, sobald es zum Abschluss kommt. Die Gegenseite widerspricht dieser Darstellung.

Nachdem es 2017 zum Abschluss gekommen ist, beginnt der Streit. Brown pocht auf seine Bezahlung. In seinen E-Mails wird er gegenüber dem Geschäftspartner und dessen Anwalt mehrfach ausfällig. Er deckt sie mit Schimpfworten ein und wirft ihnen kriminelle Machenschaften vor. Der Geschäftspartner und dessen Anwalt legen die E-Mails den Zürcher Strafverfolgungsbehörden vor. Und die sehen einen klaren Fall vor sich.

Keine Aussage von Brown – aber er liefert laufend neue Beweise

Wenn es um Ehrdelikte geht, gibt es in Europa zwei unterschiedliche Rechtsauslegungen. Für Länder wie die Schweiz oder Deutschland sind Tatbestände wie üble Nachrede, Beleidigung oder Beschimpfung ernsthafte Straftaten. Sie werden bei einer Anzeige strafrechtlich verfolgt – also vom Staat selbst.

Für andere Länder wie Grossbritannien oder Irland ist hingegen auch das krasseste Schimpfwort noch von der freien Rede gedeckt. Wer durch üble Nachrede einen Schaden geltend machen will, muss den zivilrechtlichen Weg bemühen. Der Staat ist hier bloss Schiedsrichter, nicht aber der Kläger.

Brown versteht die Welt nicht mehr, als 2017 plötzlich die Staatsanwaltschaft Zürich gegen ihn ermittelt. Zu dieser Zeit lebt er bereits im Ausland. Er weigert sich, für die Einvernahme in die Schweiz zu kommen.

Statt einer Aussage liefert er den Ermittlungsbehörden laufend neues Beweismaterial: Über 70 E-Mails mit teils beleidigenden Inhalten schreibt Brown von September 2017 bis März 2020. Weiterhin pocht er auf die Begleichung seiner Rechnungen. Auch versucht er die Gegenpartei zu betreiben, jedoch erfolglos.

Nach dreieinhalb Jahren Ermittlungen schliesst die Zürcher Staatsanwaltschaft das Verfahren im Sommer 2020 erstmals ab. Brown wird per Strafbefehl wegen übler Nachrede, Beleidigung und Nötigung verurteilt. Bei einem Wiederholungsfall wird ihm eine Geldstrafe von 28’800 Franken in Aussicht gestellt.

Und dieser Wiederholungsfall lässt nicht lange auf sich warten.

Portugal lehnt Auslieferung ab, Vorwurf der Drohung nicht erfüllt

Brown führt seine E-Mail-Kampagne nahtlos fort. Sein Dossier wandert Ende 2020 zu einer anderen Staatsanwältin. Und diese zieht nun alle Register.

Zuerst wird das Geld auf seinem Schweizer Bankkonto konfisziert – rund 35’000 Franken. Auf Antrag der Zürcher Staatsanwaltschaft stellt das Bundesamt für Justiz ein Auslieferungsersuchen an Portugal. Neben Beschimpfung und Verleumdung wird Brown neu auch Drohung vorgeworfen. Der Rentner wird am 19. Januar 2021 bei sich zu Hause von der portugiesischen Polizei festgenommen.

Gegen seine Auslieferung in die Schweiz legt Brown Beschwerde ein. Nach 48 Stunden in einem Hochsicherheitsgefängnis kommt er wieder frei – und sein Fall kommt erstmals vor ein Gericht. 

Die Verteidigung von Brown übernimmt Francisco Teixeira da Mota, einer der renommiertesten Anwälte Portugals. Auch heute, knapp dreieinhalb Jahre später, kann er über das Vorgehen der Schweizer Strafverfolgungsbehörden nur den Kopf schütteln. «Für mich klang das nach einem Verfahren aus einem undemokratischen Staat», sagt Teixeira da Mota.

Nachdem ein Lissabonner Berufungsgericht das Schweizer Auslieferungsbegehren im Mai 2021 abgeschmettert hat, landet das Verfahren einen Monat später vor dem Supremo Tribunal de Justiça, dem obersten Gerichtshof Portugals. Das Urteil des Gerichts liegt dieser Redaktion vor.

Zwar kommen die Richter darin zum Schluss, dass Brown eindeutig beleidigende E-Mails geschrieben habe. Die maximale Freiheitsstrafe für so ein Vergehen beträgt in Portugal aber bloss ein Jahr. Das ist gemäss portugiesischem Recht zu wenig, um eine Auslieferung ins Ausland zu rechtfertigen.

Beim schwerwiegenderen Vorwurf der Drohung kommt das Gericht zum Schluss, dass dieser Tatbestand gar nicht erfüllt sei. Browns «Drohung» bestand darin, dass er seinem Ex-Geschäftspartner und dessen Anwalt mitteilte, dass sie sich besser nicht innerhalb eines 10-Kilometer-Radius seines Wohnorts aufhalten sollen.

«Ich habe meinem Mandanten geraten, sich fortan von der Schweiz fernzuhalten», sagt Teixeira da Mota heute. Er könne sich nicht vorstellen, dass ein Land einen solchen Aufwand betreibe, um solch vergleichsweise geringfügige Delikte zu ahnden.

Haftrichter: Gefängnisstrafe sei völlig unverhältnismässig

Die Schweizer Strafverfolgungsbehörden liessen sich vom Urteil aus Portugal aber nicht beirren. Sie hielten den internationalen Haftbefehl aufrecht. Und tatsächlich wird Brown auf einer Durchreise nach Südafrika am Amsterdamer Flughafen Schiphol erneut festgenommen.

Am 22. April 2022 schreibt der Fachverantwortliche für internationale Personenfahndungen des Bundesamts für Justiz dem niederländischen Justizministerium einen Brief. «Wir ersuchen hiermit um die Auslieferung der oben genannten Person.» Der Brief endet mit einer Bitte: «Halten Sie uns über den Ausgang dieses Falles auf dem Laufenden.»

Fast zwei Wochen verbringt Brown in einem Gefängnis in Amsterdam, bevor er erneut einem Haftrichter vorgeführt wird. Weil es auch in den Niederlanden völlig unverhältnismässig ist, jemanden wegen Ehrdelikten einzusperren, kommt Brown am selben Tag wieder frei. Theoretisch hätte er im Land warten müssen, bis sein Fall auch von den dortigen Gerichten durchexerziert worden ist. Die niederländischen Justizbehörden stellen ihm jedoch in Aussicht, dass sie sein Dossier ad acta legen, sollte er das Land verlassen.

Das tut Brown auch. Er mietet sich ein Auto und fährt ohne Pass von Amsterdam nach Lissabon. Wenige Tage später teilt der niederländische Staatsanwalt seiner Pflichtverteidigerin mit, dass das Verfahren abgeschlossen sei. Den Reisepass werde man Brown nachschicken, heisst es im E-Mail.

Bundesamt für Justiz: «Fahndungsersuchen sind vertraulich»

Im September dieses Jahres schliesst die Zürcher Staatsanwaltschaft das Verfahren ein zweites Mal ab. Sie verurteilt Brown per Strafbefehl wegen mehrfacher Drohung, Beschimpfung, planmässiger Verleumdung und stellt ihm insgesamt 31’264.15 Franken in Rechnung. Das Geld zügelt die Behörde vom beschlagnahmten Bankkonto ab. «Der Restbetrag von 3735.85 Franken wird dem Beschuldigten zurückerstattet», heisst es im Strafbefehl.

Ob die Fahndung nach ihm damit eingestellt ist, weiss Brown nicht. Und auch die Zürcher Staatsanwaltschaft will sich dazu nicht äussern.

Die Behörde schreibt auf Anfrage, dass es sich beim Fall «aus mannigfaltigen Gründen» um ein «aussergewöhnlich anforderungsreiches Verfahren» handle. «Die Staatsanwaltschaft hat unter den gegebenen konkreten fallbezogenen Gegebenheiten und unter Einhaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen ihr Möglichstes zum Abschluss des Verfahrens getan», schreibt Sprecher Erich Wenzinger.

Das Bundesamt für Justiz schreibt auf Anfrage, dass es lediglich für den Bereich der internationalen Rechtshilfe zuständig sei. «Fahndungsersuchen und damit zusammenhängende Auslieferungsersuchen sind vertraulich und unterstehen dem Amtsgeheimnis», schreibt Sprecher Reto Liniger.

Zu Fragen bezüglich der Verhältnismässigkeit ihres Vorgehens wollten weder die Zürcher Staatsanwaltschaft noch das Bundesamt für Justiz Stellung nehmen.

* Name von der Redaktion geändert.