Abnehmende soziale MobilitätStimmt der Glaube vom sozialen Aufstieg in der Schweiz eigentlich noch?
Michael Graff widerspricht und sagt, hierzulande würden sich neue Familiendynastien wie Blochers oder Spuhlers bilden – mit immensem Einfluss auf die Politik.
Der Titel des neuen Buchs von Ciani-Sophia Hoeder spricht Bände: «Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher: Die Lüge von der Chancengleichheit» erzählt das Konzept Meritokratie als Märchen oder geplatzten Traum. Es ist das jüngste in einer ganzen Reihe aktueller Sachbücher zum Thema. Viel diskutiert wird da auch die These, in den westlichen Gesellschaften hätten zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg die jungen Generationen nicht mehr die gleich guten Aussichten wie ihre Vorgänger. Das gängige Narrativ suggeriere fälschlich, dass jedes Individuum selbst seines Glückes Schmied sei.
Hoeders eigene Geschichte spiegelt beides wider: Chancen, aber auch Grenzen in unserer Gesellschaft. Als schwarze Tochter einer alleinerziehenden, weissen Busfahrerin im Postwende-Berlin erfuhr sie Armut, sogar Hunger, auch Rassismus, Sexismus und, eben, Klassismus. Doch unterstützt von ihrer Familie biss sie sich durch, studierte und verdient heute mittelprächtig: im Verhältnis weniger als ihr Arbeiter-Grossvater seinerzeit. Dafür hat sie kulturelles Kapital und mehr Selbstbestimmtheit.
Geboren 1991, gründete die Publizistin Ciani-Sophia Hoeder 2019 ein Onlinemagazin für schwarze Frauen («Rosamag»). Im neuen Buch untersucht sie anschaulich, gestützt auf Forschungsergebnisse, Expertinnengespräche sowie persönliche Zeugnisse, das gegenwärtige «Klassenunbewusstsein», seine Folgen und mögliche Lösungswege.
Ist die Lage in der Schweiz vergleichbar? Dazu haben wir den just emeritierten ETH-Wirtschaftswissenschaftler Michael Graff befragt.
Die Refeudalisierung
Der eher rechte New Yorker Marketingprofessor Scott Galloway schockierte jüngst mit der Aussage, erstmals in der Geschichte Amerikas gehe es den 30-Jährigen schlechter als ihren Eltern mit 30. Schon 2019 konstatierte der Zürcher Wirtschaftshistoriker Hans-Joachim Voth, dass das «Gespenst abnehmender sozialer Mobilität» Europa heimsuche. In der Schweiz bräuchten Kinder aus Familien der untersten 10 Prozent der Einkommen 5 Generationen, um es zu einem Durchschnittslohn zu bringen (Skandinavien: 2 bis 3).
Graff stellt jetzt fest: «In der bürgerlichen Demokratie der Schweiz zählte lang vor allem die Leistung. Seit ein paar Jahrzehnten beobachten wir jedoch eine Refeudalisierung, es entstehen Familiendynastien mit Namen wie Blocher und Spuhler, deren Einfluss auf die Politik immens ist und die fix mit der SVP verknüpft sind.»
Auch Hoeder zeichnet im Buch den Weg von der «Geburtsstunde des Leistungsgedankens» in der – relativen – Freiheit mittelalterlicher Städte bis heute nach: «Wir verwandeln uns wieder in eine Aristokratie. Eine Staatsform, bei der die Herrschaft im Besitz der Reichen ist.» Was im allgemeinen Zustand der Klassenunbewusstlosigkeit niemand bemerke.
Die Journalistin unterscheidet fünf Gruppen, von der prekären Klasse, etwa Working Poor, über eine städtische und eine rurale Mittelklasse, die sich bekämpfen statt sich zu solidarisieren, bis hin zu den «Wohlständigen» und den einflussreichen «Überwohlständigen», die nicht arbeiten müssen.
Dem Lausanner Wirtschaftswissenschaftler Daniel Oesch fehlt gleichfalls die Klassendifferenzierung, wie er dieser Redaktion sagte. In der Schweiz gebe es nur noch den «absurden Begriff ‹Mittelstand›», der alles umfasse vom schwerreichen Unternehmensführer Christoph Blocher bis zum Hilfsarbeiter. Graff folgert: «Dass es kein Klassenbewusstsein gibt, führt auch dazu, dass die Leute gegen ihre eigenen Interessen wählen, weil sie irgendwie das Gefühl haben ‹ich könnte ja selber mal am Züriberg wohnen›.»
In Wahrheit bleibe diese «Klassenreise» meist ein Traum, so Hoeder. Laut Oesch hat das allgemeine Lohnwachstum hierzulande nicht mit dem der Volkswirtschaft Schritt gehalten, beim «Kapital und einem winzigen Teil der Lohnabhängigen» gebe es dagegen «enorme Einkommenszuwächse». So entstehe ein Gefühl der Ungleichheit.
Ist es nur ein Gefühl? Gemäss Graff ist es «völlig unrealistisch, dass jemand, der nicht aus einer der einkommensstarken Familien kommt, auch nur die obersten 10 Prozent der Einkommen erreicht, geschweige denn das Top-1-Prozent».
Die Disparitäten beim Bruttoeinkommen entsprächen zwar noch ungefähr dem OECD-Durchschnitt. Doch falle auf, dass die Unterschiede in den Nettoeinkommen in der Schweiz – durch die Steuer- und Abgabenpolitik wie Krankenkassen – zunähmen. Anderswo würden die Unterschiede reduziert – durch die Abgabenlasten und eine Steuerprogression, der man sich nicht durch Umzug in eine Tiefsteuergemeinde entziehen könne.
Zudem ist die Vermögensungleichheit hierzulande deutlich stärker ausgeprägt als in der Mehrheit der OECD-Länder. Der Vermögensanteil der Top-1-Prozent am Gesamtvermögen wuchs zwischen 2005 und 2020 laut Daten des Bundes von 38 auf rund 45 Prozent. Laut Global Wealth Report 2023 von Credit Suisse und UBS halten die obersten 10 Prozent über 77 Prozent des Vermögens.
Auch Bildungssystem und Dating segregieren
Bildung als Ticket zu sozialer Gerechtigkeit: laut Hoeder eine Fantasie. «Bildung ist keine Lösung, sie ist ein Problem», schreibt sie und berichtet von mangelnden Betreuungsressourcen in ärmeren Familien, von Diskriminierung durch Lehrpersonen, von fehlenden Vorbildern und Unterstützungsmöglichkeiten.
Das sehen hiesige Bildungsforschende ähnlich. Margrit Stamm etwa sagt, dass ein bildungsbürgerlicher «Habitus» Kindern schon in der Primarschule Vorteile verschaffe. In der Pisa-Studie von 2023 weisen vor allem Jugendliche aus Familien mit sozioökonomisch tieferem Status einen auffällig starken Leistungsrückgang in Mathematik auf. Auch beim Lesen, bei dem ein Viertel der 15-Jährigen die Grundkompetenzen nicht erreicht, schwächeln mehrheitlich ärmere.
Die Einteilung in verschiedene Leistungsgruppen erschwere den Aufstieg, erklärt Andrea Erzinger, federführend bei der neuen Pisa-Studie, dieser Redaktion. «Kinder aus Familien mit benachteiligter sozialer Herkunft werden mit grösserer Wahrscheinlichkeit in tiefere ‹Tracks› eingeteilt.» Dort kämen sie nur mit Mühe heraus. Auch ETH-Emeritus Graff kritisiert, nach der ersten schulischen Selektion sei die Aufwärtsmobilität theoretisch zwar möglich, in der Praxis aber eher Ausnahme als Regel. Dass sein eigener Nachwuchs – mit akademischen Eltern und deutscher Muttersprache – gerade einen Doktortitel erwerbe, spreche für sich.
Selbst im Dating-Kosmos, der seit den Onlineplattformen die ganze Welt im Angebot hat und klassenlos erscheint, werden gesellschaftliche Strukturen reproduziert. Hoeder schildert, wie sehr man beim Verpartnern auf Menschen mit einem bestimmten sozioökonomischen Fond anspringt. «Schlaue Frauen und dumme Männer bleiben übrig», zitiert sie Eckart von Hirschhausen. Sie bezeichnet das Phänomen als «Gender Class Dating Gap».
In der Tendenz würden Ehepartner gewählt, deren kulturelle Prägungen sowie ökonomischer Status den eigenen gleichen – wobei Frauen Abweichungen «nach oben» billigen und Männer «nach unten». Die Folge der unbewussten Heiratspolitik sei eine Verfestigung der Klassengrenzen.
Ihre eigene Partnerschaft beschreibt Hoeder so: «Wir stammen beide aus einer Arbeiter:innenfamilie und gehören nun derselben sozialen Schicht an. Unabhängig voneinander erlebten wir beide eine Klassenreise. Dadurch leben wir gemeinsam in zwei Welten.»
Hoffnung auf Umverteilung
Reichtum verändere nachgewiesenermassen die Psyche, referiert Hoeder: Je mehr man habe, desto weniger sei man zum Teilen bereit. Die darwinistische Wirtschaftsform führe zu Dauerkonkurrenz, «Gier, Geiz, Betrügen, Bestechen, Bestehlen». Selbst das bedingungslose Grundeinkommen sei nur ein Tropfen auf den heissen Stein, solange die Erbverhältnisse derart ungleich seien. Es ändere nichts an der Machtkonzentration. «Eine Erkenntnis dieses Buches lautet, dass die Wirtschaft viele Menschen braucht, die Geld haben. Überwohlstand in den Händen einiger weniger ist schlecht für den Wohlstand für alle. Und dadurch auch irgendwann für die Überwohlständigen.»
Der Elitefeminismus erweise sich dabei nur als Verlängerung der klassistischen Strukturen, so Hoeder. Wenn es einige wenige Frauen auf Kaderposten schafften und finanziell so unabhängig seien, dass sie sich eine billige Nanny leisten können, sei das kein Schritt in Richtung gerechtere Gesellschaft.
«Ungleichheit ist nicht naturgegeben»
Graff unterstreicht, dass Menschen in egalitären Gesellschaften gemäss Studien am glücklichsten sind. Er würde eine höhere Steuer auf die Kapitalgewinne begrüssen, besonders für Grossaktionärinnen, deren Dividenden um bis zu fünfzig Prozent tiefer besteuert würden als Arbeitseinkommen. Problematisch sei auch die rigide Schuldenbremse: Der Staat werde durch sie ausgetrocknet, was die Macht der Supervermögenden noch stärke.
«Meiner Meinung nach ist das akzeptable Mass bei der Vermögensungleichheit überschritten, aber auch bei den Einkommen. Es delegitimiert unsere Ordnung und gefährdet die Demokratie.» Dass Parteien und ihre Funktionäre spendenabhängig seien, sei keine gute Voraussetzung für eine zivilgesellschaftlich ausgerichtete Politik. «Eine staatliche Parteienfinanzierung könnte man problemlos aufbauen und die Spenden deutlich limitieren.»
Eine weitere Möglichkeit, lobbygetriebene Politik einzudämmen, wäre, so Graff, ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern bei der Gesetzgebung Mitspracherechte einzuräumen wie etwa in Irland. Hoeder ist überzeugt: «Ungleichheit ist nicht naturgegeben, auch nicht der Preis des Fortschritts. Sie ist das Resultat von Politik und Ideologie.»
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