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Herausgeberin des Pisa-Berichts
«Kinder verlieren in starren Schul­lauf­bahnen die positive Einstellung zum Lernen»

*Reportage aus der Tagesschule Aegerten*: Wie funktioniert das? Wo haperts noch? Wir begleiten die dritte Klasse von Frau Kuhn.
30.08.2022
(URS JAUDAS/TAGES-ANZEIGER)
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Gemäss Pisa-Bericht gibt es seit 2015 in der Mathematik einen Abwärtstrend. Was ist da los?

Wir müssen exakt sein: Im Vergleich zu 2015 gibt es im Mittel einen leichten Abwärtstrend, im Vergleich zu 2018 stagniert der Mittelwert auf relativ hohem Niveau. Aber so oder so: Darauf dürfen wir uns nicht ausruhen! Denn wir wollen ja möglichst alle Schülerinnen und Schüler mitnehmen. Und gerade in dieser Frage sehen wir eine bedenkliche Entwicklung: Vor allem Kinder aus Familien mit einem sozioökonomisch tieferen Status weisen einen auffällig starken Rückgang der Leistungen in Mathematik auf.

Warum ist das so?

Das hat sich von 2018 zu 2022 deutlich verschärft, in der Schweiz, aber auch in sieben anderen europäischen Ländern – und die Gründe dafür sind noch genauer zu untersuchen. Denn hier wird nicht nur das Problem perpetuiert, dass soziale Herkunft und Leistung zusammenhängen, sondern die Schere ist auseinandergegangen. Die soziale Spaltung wird unter Umständen durch die Digitalisierung vorangetrieben: Vor diesem Hintergrund wird auch von digitaler Spaltung gesprochen. Wir beobachten hier Parallelen: Sozial privilegierte Kinder sind geübter im Umgang mit digitalen Hilfsmitteln, was ihnen angesichts heutiger digitalisierter Unterrichtsformen hilft. Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Schere bei zunehmender Digitalisierung des Unterrichts auch in anderen Ländern öffnen wird.

«Risikofaktor» Geschlecht: Die Mädchen sind seit 2012 ängstlicher gegenüber dem Fach Mathematik. Damals äusserten 52,6 Prozent Mathe-Angst, 2022 waren es 68 Prozent.

Bezüglich der Emotionen und Einstellungen zu Mathematik wurde in den letzten Jahren auf Sekundarstufe, aber auch auf Primarstufe viel unternommen, um die Mädchen an Mint-Fächer heranzuführen und Vorbilder zu vermitteln. Trotzdem sind wir noch nicht da, wo wir hinwollen. Wir verstehen den Mechanismus zwischen Geschlecht und schulischen sowie beruflichen Interessen noch nicht vollständig. Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass bereits früher im Lebenslauf, also in Kita und Kindergarten, die entsprechenden Interessen geweckt und die Wahrnehmung dieser Kompetenzen gefördert werden sollten.

Das scheint – noch – nicht anzukommen. Beim Gefühl der «Selbstwirksamkeit» gegenüber Matheaufgaben schwächeln die Mädchen trotz erstarkendem Feminismus. Wieso?

Die Selbstwirksamkeitserwartung bei Pisa kann aus methodischen Gründen nicht über die Jahre verglichen werden. Aber der Geschlechterunterschied zuungunsten der Mädchen ist bei der Selbstwirksamkeit ebenfalls erkennbar, das stimmt. Die bisherigen Förderansätze sind offenbar noch nicht ausreichend. Dabei gilt es aber auch zu bedenken, dass das Zusammenspiel der verschiedenen Kontexte, in denen Kinder aufwachsen, sehr komplex ist. Zudem spiegeln die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler ja diejenigen der Gesellschaft wider, und Veränderungen brauchen ein bis zwei Generationen, bis sie richtig durchschlagen. Man könnte die Resultate hier aber auch positiv deuten.

Wirklich?

Der Geschlechterunterschied in der Selbstwirksamkeitserwartung hat sich bis 2012 verstärkt und nun bis 2022 wieder leicht abgenommen. Das heisst, wir sind doch auf dem richtigen Weg.

Was bleibt zu tun?

Wir haben vor allem einen Rückgang von den Mathematikleistungen bei Kindern in den unteren sozioökonomischen Vierteln. Über ein Allheilmittel verfügen wir nicht, einige Knackpunkte sind aber bekannt: Die Kinder werden bei uns teils sehr früh in verschiedene «Tracks», Schullaufbahnen (Sek A, B, Gymnasium), eingeteilt, und je nach Kanton ist die Durchlässigkeit zwischen den «Tracks» sehr gering. Dann ist das Wechseln schwierig, wird auch nicht gefördert. Und Kinder aus Familien mit benachteiligter sozialer Herkunft werden, wie vielfach wissenschaftlich untermauert, mit grösserer Wahrscheinlichkeit in tiefere «Tracks» eingeteilt.

«Ein Viertel der Jugendlichen beherrscht nicht mal Grundkompetenzen im Lesen.»

Andrea Erzinger

Das heisst?

In starren Schullaufbahnen gehen nicht nur Vorbilder verloren, sondern oft auch die positive Einstellung zum Lernen und das Gefühl, dass sie selber noch etwas bewirken können im eigenen Leben. Dadurch sinkt der Einsatz für die Schule – und die Leistungen. Eine spätere Aufteilung und mehr Durchlässigkeit zwischen den «Tracks» sind dagegen motivierend.

Stichwort Leseleistung: Vierzehn Länder liegen im Mittelwert höher als wir. Zudem verfügt ein Viertel der Schüler kaum über Grundkompetenzen, 2015 wars noch ein Fünftel (2018: 24%). Dabei hat sich die Schule doch engagiert?

Ja, das hat sie, seit dem sogenannten Pisa-Schock von 2000. Da wurden etwa Bibliotheksbesuche implementiert, Lesetage, auch Frühförderung. Jetzt stagnieren die Leistungen wenigstens. Aber dass ein Viertel der Jugendlichen nicht einmal die Grundkompetenzen beherrscht, ist nicht gut. Auch hier gehts vor allem um junge Menschen aus Familien mit tiefem sozioökonomischen Status. Da würden, denke ich, eben wieder die Elemente durchlässigeres Schulsystem und möglichst frühe Förderung greifen. Aber die eine Stellschraube, die alles verändert – und die uns auch im Mittelwert in die Top Ten pusht –, die gibt es nicht, zumal die Einflussfaktoren ein komplexes Zusammenspiel aufweisen.

Die Lebenszufriedenheit der Jugendlichen ist hierzulande gefallen, wie fast überall. Ein Grund zur Besorgnis?

Jein. In den letzten Jahren ist die Lebenszufriedenheit gesamtgesellschaftlich eher gesunken, was sich bei den Kindern widerspiegelt. Sie spüren die Belastungen und Ängste, die die Gesellschaft erfasst haben; die Hilflosigkeit bei Pandemien, Kriegen. Eventuell bemerken Kinder aus weniger privilegierten Familien auch eine Besorgnis der Eltern über Kostensteigerungen – das müsste man genauer untersuchen. Aber es gibt auch eine positive Nachricht.

Kinder spielen auf dem Pausenplatz, zum Schulbeginn, am Montag, 24. August 2015, in Vella. Das Dorf gehoert zur Gemeinde Lumnezia. Ueber 80 Prozent der Einwohner geben das romanische Idiom Sursilvan als ihre Muttersprache an. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller) *** EDITORIAL USE ONLY ***

Welche?

Der Mittelwert im Mobbing hat sich reduziert von 2018 zu 2022.

In Prozentzahlen: Statt 20 Prozent berichten 19 Prozent von Mobbing.

Auch wenn das in Prozentzahlen nicht viel ausmacht: Statistisch gesehen ist es eine signifikante Abnahme, und wir schliessen daraus, dass Mobbingprävention, in die viele Schulen investieren, auch wirkt. Das heisst, wir sind auf gutem Weg. Dennoch ist es zu viel, dass jede fünfte Schülerin, jeder fünfte Schüler von Mobbingerfahrungen berichtet. Hier ist essenziell, sich für die positiven Beziehungen zwischen allen «Playern» einzusetzen: zwischen Lehrpersonen, Schüler, Eltern, Schulleitung. In der Tat gehen weniger Mobbingerfahrungen mit einem zunehmenden Zugehörigkeitsgefühl in der Schule einher, das gegenüber 2018 zugenommen hat: Es tut sich also was.