Leere Hotels in den AlpenSchöner klotzen
Betten in Beton: Ein faszinierender Bildband zeigt die Skizentren der französischen Alpen im Sommer. In den warmen Monaten sind die Hotelkästen so verlassen wie jetzt im Teil-Lockdown.
Kein Wunder, dass es momentan in der Diskussion um den Skitourismus immer wieder heisst, die Lifte müssten zubleiben, schliesslich müsse man «ein zweites Ischgl» vermeiden. Und so ringen die Alpenanrainer gerade um eine gemeinsame Linie. Deutschland und Italien sind dafür, dass bis zum 10. Januar alle europäischen Skigebiete geschlossen bleiben. Österreich und die Schweiz wollen den Skibetrieb, wenn auch mit Einschränkungen, aufrechterhalten.
Frankreich versucht sich an einem Kompromiss: Regierungschef Jean Castex verkündete, die französischen Skigebiete könnten in den Weihnachtsferien öffnen, die Skilifte bleiben allerdings geschlossen.
Nun, bis all das endgültig entschieden ist, kann man sich ja einfach die Bilder von Olaf Unverzart und Sebastian Schels anschauen. Die beiden Fotografen sind durch die Skizentren der französischen Alpen gefahren (mit kurzen Abstechern in Schweizer und italienische Nachbargemeinden) und haben die Architektur dieser Orte genauer unter die Lupe beziehungsweise vor die Linse genommen. Dass sie das Ganze im Sommer gemacht haben, trägt nicht unwesentlich zur Faszination ihrer Bilder bei.
Orte im Nichts, generalstabsmässig erbaut
Findlinge sind einzelne, sehr grosse Steine, die während der Eiszeit von Gletschern mitgeführt werden. Irgendwann wird es wärmer, das Eis verschwindet, und der Stein steht allein und fremd in einer Gegend rum, in die er eigentlich gar nicht gehört.
Die 32 Hotels und Dörfer dieses Bandes wirken wie Findlinge aus der Zeit der Trente Glorieuses. So nennt man in Frankreich die Phase zwischen 1945 und 1973, in der die westeuropäische Wirtschaft genauso explosiv wuchs wie die Kaufkraft der Bürger. Der Fortschrittsenthusiasmus und die Technikgläubigkeit, die treibenden Kräfte dieser Epoche, sind längst dahingeschmolzen, die Bettenburgen aber, die damals in diese Berge und Täler geschoben wurden, sind immer noch da.
Der Architekturtheoretiker Dietrich Erben beschreibt in seinem Nachwort, wie damals oft ganz strategisch und generalstabsmässig von der Pariser Regierung Orte im Nichts festgelegt wurden, in denen die Touristen auf halber Strecke in die Nachbarländer abgefangen werden sollten.
1000 Betten für das Personal. Restaurants, Geschäfte, ein Kino, eine Kirche, ein Centre d’art. Alles so kompakt wie in einer Innenstadt.
Während in den französischen Alpen, an der Grenze zu Italien und der Schweiz, die Ski-Resorts aus dem Boden wucherten, entstand an der Mittelmeerküste zeitgleich die auf 100’000 Urlauber ausgelegte Pyramidenstadt La Grande-Motte. Einige der abgebildeten Skifestungen könnten denn auch genauso gut Hotelbastionen an irgendeinem Mittelmeerstrand sein. Andere wirken wie Billigbaumodule aus den Banlieues, die damals ebenfalls im Rekordtempo rings um die Grossstädte wuchsen.
Flaine zum Beispiel. Hochhäuser, vorfabriziert und vor Ort montiert. 2000 Hotelbetten. 4000 Ferienwohnungsbetten. 1000 Betten für das Personal. Restaurants, Geschäfte, ein Kino, eine Kirche, ein Centre d’art. Tennishalle, Schwimmbad, Kegelbahn.
Alles so kompakt wie in einer Innenstadt. Und als Höhepunkt La Flaine, Marcel Breuers Hotel, das spektakulär über eine Felswand kragt und heute zu den «monuments historiques» zählt. Bei Unverzart und Schels wirkt es, als sei eine brutalistische Version der Enterprise mit Captain Corbusier an Bord in den Granithang gekracht.
Beton für die Archäologen der Zukunft
Nun könnte man zivilisationskritisch weitermäkeln, dass das alles nach touristischen Überdruckkammern aussieht; dass keiner dieser Orte versucht, sich der Landschaft mimetisch anzugleichen, sondern jeder für sich im Gegenteil fast wie der aggressive Gegenentwurf zur ihn umgebenden Natur wirkt. Und dass man beim Anblick dieser Bilder wieder weiss, warum das Anthropozän Anthropozän heisst – Spuren von so viel Beton, wie hier jeweils verbaut wurde, wird man noch in Hunderttausenden von Jahren finden (wenn man diesen Monumenten die Chance gibt, in Ruhe vor sich hin zu wittern).
Andererseits: Die Menschen waren damals berauscht vom Fortschritt und wollten auch im Urlaub das neustädtische Lebensgefühl um sich haben. Die gekippten Kubaturen von «Arc 1600» mitten im Schnee müssen damals gewirkt haben wie das utopische Versprechen, dass ab jetzt wirklich alles möglich sein würde – über ihren Köpfen rauschte seit 1976 die Concorde durch den azurblauen Winterhimmel, das schnellste Passagierflugzeug aller Zeiten.
Zugleich wohnte all diesen Klötzen das egalitäre Versprechen inne, dass man endlich auch ohne Reichtum am mondänen Freizeitleben teilnehmen darf. Man könnte also auch sagen, dass diese Denkmäler des Brutalismus einfach die Wahrheit über sich selber sagen, indem sie schon in ihrer Architektur nach aussen stülpen, dass sie nun mal riesige Maschinen des Massentourismus sind.
Der Touristengeschmack hat sich verändert. Heute herrscht «diese infantile Sehnsucht nach der heilen Heidi-Welt».
Été, eine fotografische Erkundungsreise durch alpine Skigebiete. Herausgegeben von Sebastian Schels, Olaf Unverzart. 164 S., Verlag Kettler 2020, ca. 62 Fr.
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