Mit England im WM-FinalSarina wird es richten – die Trainerin, der England vertraut
Sie steht zum vierten Mal in Serie mit ihrem Team im Endspiel eines grossen Turniers. Sarina Wiegman ist immer auf alles vorbereitet – und verschenkt auch mal als Gag einer Spielerin einen BH.
Kann Erfolg wirklich so einfach sein? «Keine Ahnung, wie ich das gemacht habe», sagt Sarina Wiegman nach dem Halbfinalsieg ihrer Engländerinnen über das Gastgeberland Australien, «ich fange jeweils einfach an zu arbeiten.»
Schön für ihre Auftraggeber: Wenn Wiegman mal irgendwo ihre Arbeit aufgenommen hat, dann dürfen die guten Resultate praktisch eingeplant werden. 2017 gewinnt die Trainerin mit den Niederlanden die Europameisterschaft, 2019 erreicht sie den WM-Final gegen die USA, 2022 triumphiert sie mit England an der EM – und jetzt steht sie wieder im Endspiel der Weltmeisterschaft.
Der Ruf der 53-Jährigen ist inzwischen so gut, dass es im englischen Fussball ein geflügeltes Wort gibt, sobald Probleme auftauchen, bei denen andere verzweifeln würden: «In Sarina we trust.»
Starstürmerin Beth Mead erleidet einen Kreuzbandriss? Captain Leah Williamson fehlt mit derselben Diagnose? Das ebenso hochgelobte wie schwierige Talent Lauren James wird nach einer Tätlichkeit im Achtelfinal gegen Nigeria für zwei Spiele gesperrt? Dann heisst es auf der Insel bloss: «Sarina wird das schon richten.» Als habe die Niederländerin irgendeinen Zauberspruch auf Lager, der alle Widerstände in Luft auflöst.
Vermutlich ist es aber doch keine Magie. Sondern pure, perfektionistische Vorbereitung auf alle Eventualitäten. «Es gibt einen Plan B, C und D», hat Arvid Smit erzählt, der Wiegmans Assistenztrainer im niederländischen Nationalteam war. «Was geschieht, wenn der Gegner nach fünf Minuten eine Rote Karte erhält? Was, wenn wir nach zehn Minuten 0:2 hinten liegen?»
Also klagt Wiegman nicht, wenn ihr eine wichtige Spielerin fehlt. Stattdessen bereitet sie das Team so vor, dass es auch ohne Stammkräfte geht. Und vielleicht kommt es ihr sogar entgegen, wenn sich gar keine richtigen Stars aus ihrer Mannschaft herausbilden. Weil bei ihr die Gruppe immer vor dem Individuum steht.
Die Verbindung zu Louis van Gaal
Sie ist da ganz auf der Seite ihres Landsmanns Louis van Gaal. Der ehemalige Trainer der niederländischen Männer schickte 2021 dem Frauenteam einen Gruss samt Seitenhieb auf das Männerteam: «Schaut euch die EM der Männer an. Da habt ihr einen Haufen von Elitestars gesehen, der es nicht geschafft hat. Ich habe immer gesehen, dass es bei den Frauen unter Sarina ein Team gibt, das bereit ist, gemeinsam durchs Feuer zu gehen.»
Es ist wohl kein Zufall, dass van Gaal und Wiegman beide im Leben vor der Trainerkarriere Lehrer waren. «Sportlehrerinnen wissen, dass alles geschehen kann. Du musst Augen im Hinterkopf haben», hat Ted Bruggeling «The Athletic» über die gemeinsame Zeit mit Wiegman im Segbroek-College in Den Haag erzählt.
Bruggeling beschreibt Wiegman auch noch als «strikt», aber nicht so sehr, dass sich die Kinder vor ihr gefürchtet hätten. Es ist ein ähnliches Gefühl, das Wiegman in ihren Teams verbreitet. Es ist einerseits klar, dass sie es immer wieder schafft, ein Gemeinschaftsgefühl aufzubauen. Dass es die Spielerinnen mögen, von ihr angeleitet zu werden. «Sie hat den X-Faktor», sagt ihr ehemaliger Assistent Smit, «die meisten Menschen lieben sie einfach.»
«13 Dinge, die Sie aufgeben sollten»
Andererseits glimmt da hinter der goldumrahmten Brille und dem stets so ruhigen Gesichtsausdruck aber auch eine Glut, die durchaus zum Feuer werden kann. «Du kannst mit ihr einen Kaffee trinken und gemütlich über die Familie reden», sagt Jill Scott, die unter ihr Europameisterin geworden ist: «Aber sobald du über diese weisse Linie am Spielfeldrand gehst, hast du auch ein wenig Angst, weil du für sie unbedingt eine gute Leistung abliefern willst.»
Als sie 2014 das Nationalteam der Niederlande übernahm, verteilte sie ihren Spielerinnen als Erstes einen Artikel mit dem Titel: «Dreizehn Dinge, die Sie aufgeben sollten, wenn Sie Erfolg haben wollen.»
Einer der Punkte auf der Liste: «Mach dich nicht kleiner, als du bist.» Das mag auf den ersten Blick nicht zu Wiegman passen, die es nicht mag, im Zentrum zu stehen. Aber eine Geschichte aus Wiegmans Anfangszeit beim englischen Verband passt ganz gut zu diesem Satz.
Als sie erstmals das Trainingszentrum St. George’s Park besuchte, wurde ihr ein Fussballfeld mit den Worten gezeigt: «Und das ist der Platz für die Männer.» Wiegman wies darauf hin, dass sie nirgends ein Schild sehe mit der Aufschrift «Feld für Männer». Und sie fragte, ob es der beste Platz der Anlage sei. Als das bejaht wurde, beschloss sie, dass die Frauen die EM auf diesem Feld vorbereiten würden. Die Männer trainierten danach nebenan.
Sie ist schon auch ein Mensch
Die Anekdote aus Beth Meads Buch zum EM-Titel 2022 zeigt: Wiegman hat eine klare Einstellung zum Thema Gleichberechtigung. Sie weiss als 104-malige Nationalspielerin, welche Widerstände Frauen zu überwinden hatten und immer noch haben, die auf höchstem Niveau Fussball spielen wollen. Auch darum hat sie schon ehemalige Fussballerinnen zum englischen Nationalteam eingeladen, die darüber berichteten, wie ihnen verboten wurde, ihr Spiel zu spielen.
Aber für sie steht auch fest: Wenn ein Turnier einmal begonnen hat, dann darf kein Fünkchen Konzentration verloren gehen. Auch darum sind die Verhandlungen der Engländerinnen mit dem Verband über WM-Prämien kein Thema mehr, seit der Ball rollt.
Manchmal vergesse sie fast, dass ihre Trainerin auch ein Mensch sei, hat Offensivspielerin Georgia Stanway während dieser WM einmal erzählt. So fokussiert wirkt ihre Trainerin.
Der rote BH, der im Abfall landet
Dabei kann Sarina Wiegman durchaus auch lustig. Um die Niederländerinnen für die Heim-EM anzufeuern, führte sie in der Vorbereitung ein internes Turnier unter den Spielerinnen durch. Mit Punkten für Pünktlichkeit, lustige Witze oder Elfmeterschiessen.
Und der Preis für die glückliche Gewinnerin des hart umkämpften Wettbewerbs? Einer von Wiegmans roten Büstenhaltern. Als «Zeichen der Unterstützung». Der BH landete im Abfall. Dafür hielten die Niederländerinnen kurz darauf einen EM-Pokal in ihren Händen.
Von ähnlichen Spielchen ist bislang nichts aus dem englischen Lager zu vernehmen. Aber das Ziel am Sonntag bleibt das gleiche: einen Pokal gewinnen. Es wäre nach zwei Europameisterschaften der erste Weltmeistertitel für Sarina Wiegman. Wie sie dann reagieren wird? Gut möglich, dass das der einzige Fall ist, auf den sie sich nicht akribisch vorbereitet hat.
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